Das Büro des diensthabenden Oberarztes der Urologie sah aus wie immer: Das kalte Licht der Deckenlampen tauchte den im Stil der siebziger Jahre gehaltenen Raum in eine grelle, harte Stimmung. Carl seufzte etwas zu melodramatisch, schlurfte müde durch den Raum und ließ sich auf seinen Schreibtischsessel fallen. „Was für ein Tag“, murrte er, bevor er einen Schluck aus der Wasserflasche nahm, die auf der Tischplatte gestanden hatte. Er war schon sehr lange wach und die letzten Tage waren mehr als nur ein bisschen stressig gewesen. Die Hälfte seiner Leute lag mit der Grippe im Bett und so blieb ihm nichts anderes übrig, als zusätzliche Patienten zu übernehmen und den Papierkram, welcher sein Job mit sich brachte, vorerst auf die lange Bank zu schieben. Gerade als sich Carl müde zurücklehnen und kurz die Augen schließen wollte, klopfte es an der Tür und noch bevor er etwas sagen konnte, hörte er die Scharniere quietschen. Glenn streckte seinen Kopf durch den Spalt und rief viel zu laut in das kleine Büro: „Hallo, jemand zu Hause?“
„Ich bin da, komm nur rein“, entgegnete Carl, froh um die Ablenkung. Sein guter Freund und früherer Studienkollege Glenn, der nun in der Chirurgie desselben Spitals arbeitete, war immer sehr unterhaltsam und nach einem strengen Tag wesentlich aufmunternder als ein paar Energy Drinks. Glenn trat herein und schloss die schwere, weiße Tür hinter sich, bevor er auf den Besucherstuhl zuging und eine Plastiktüte ohne Logo auf den Tisch stellte. „Und, was hat Dr. Kettensäge heute alles angestellt?“, erkundigte sich Carl grinsend. Den Spitznamen benutzte er schon seit Jahren. Angefangen hatte die Geschichte während dem Studium, als die Internisten und die Chirurgen einander immer gefrotzelt hatten. Glenn zuckte mit den Schultern und meinte dann: „Zuletzt hatte ich einen Patienten mit Hydrocephalus und musste einen Shunt legen.“
„Dann hattest du ja mal wieder viel mehr Action als ich“, meinte Carl grinsend und auf den großen Papierstapel vor ihm deutend. „Das kommt davon, wenn man Oberarzt der Urologie wird.“
„Carl Marks, medizinischer Herrscher über das beste Stück des Mannes“, prustete Glenn unvermittelt los und Carl verzog für einen Augenblick verwirrt das Gesicht, bevor er in das Gelächter einstimmte und „Quatschkopf!“ ausrief.
Kaum kam er zu Atem, deutete er fragend auf den weißen Plastiksack, den sein gieriger Blick schon längst fixiert hatte: „Was ist da drin?“
„Erinnerst du dich noch an unsere Zeit im Studentenwohnheim?“, wollte Glenn grinsend wissen und fügte dann hinzu: „Die langen durchlernten Nächte…“
„Tiramisu?“, fragte Carl mit beinahe kindlicher Freude.
„Jup“, sagte Glenn breit grinsend und packte den Nachtisch aus. „Damals haben wir uns nur noch von dem Zeug und Wodka ernährt.“
„Aber heutzutage ist es Kaffee“, fügte Carl hinzu, während er zu seiner Kaffeemaschine trat und zwei Tassen darunter stellte. „Das ist auch besser so, schließlich solltest du morgen nicht verkatert operieren.“
Glenn lehnte sich in dem harten Patientenstuhl, abgebrüht wie er nun einmal war, genüsslich entspannt zurück und murmelte dann mit einer übertrieben weit ausholenden Geste: „Ich bin bloß ein Tourist in den menschlichen Eingeweiden.“
Carl gluckste los und hätte beinahe die beiden Tassen Kaffee ausgekippt, die er gerade zum Schreibtisch trug. Er konnte sie jedoch im letzten Augenblick retten und sicher auf die glatte Tischplatte stellen. „Den Spruch hast du auch seit dem Studium nicht mehr gebracht“, meinte er dann amüsiert und fügte hinzu: „Und jetzt bist du fünfundvierzig und bald Chefarzt der Chirurgie, wenn du so weiter machst. Wer hätte gedacht, dass Dr. Kettensäge es jemals so weit bringen würde?“
„Ich“, entgegnete Glenn mit vollem Mund und hob dazu schülerhaft eine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger. Carl nahm einen Schluck von seinem Kaffee und dachte kurz über ihre Freundschaft nach. Jeden Donnerstag trafen sie sich nach der Arbeit in seinem Büro, aßen Süßigkeiten und alberten rum, kindisch wie in alten Zeiten. Er dachte sich, dass wohl keiner ihrer Patienten noch Vertrauen in ihren Arzt hätte, wenn sie sehen würden wie unsinnig sich die beiden aufführten, wenn sie unbeobachtet waren. Doch manchmal brauchte man einfach seine Zeit um sich gehen zu lassen, weder erwachsen noch professionell zu wirken. Carl beobachtete, wie Glenn einen weiteren großen Bissen von seinem Tiramisu nahm. Er hatte längst begriffen, dass bei der Operation etwas schiefgelaufen sein musste, sonst wäre Glenn wesentlich weniger aufgekratzt – doch er respektierte, dass sein langjähriger Freund sich im Augenblick lieber ablenken wollte und machte bei den Witzeleien und dem Unsinn noch so gern mit. Denn dafür sind gute Freunde schließlich da.