Dies ist der 4. Teil der Fortsetzungsgeschichte „Ein gefährlicher Ort“.
Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Schwer keuchend langte Meghan nach Chris auf der Bergkuppe an und schaute sich in der hereinbrechenden Dämmerung um. Sie schnaufte angestrengt, ehe sie zu Wort kam: „Okay, da sind wir.“
Ihr Begleiter war weniger außer Atem und linste auf den unter ihnen liegenden Wald. „Ja, gerade rechtzeitig. Ich sehe bis zum Gefängnis.“
„Jup.“ Mit zusammengekniffenen Augen erkannte sie es ebenfalls. Dummerweise war kein Optiker in der Verbannung gelandet, der sich um ihre schleichend zunehmende Kurzsichtigkeit kümmern konnte – in einigen Jahren würde das zu einem echten Problem. Als ortskundigstes Mitglied ihrer Gruppe war Meghan unentbehrlich, allerdings hatte Chris ihr im Laufe der letzten Monate die Stellung als fähigster Haudegen streitig gemacht. Nein, nicht streitig gemacht, definitiv abgenommen, korrigierte sie sich in Gedanken. „Chris?“, begann sie und nahm einen Schluck aus ihrer eingedellten Metalltrinkflasche, „ich verstehe, dass du es den anderen verheimlichen wolltest, aber mal ehrlich: Hat unser Plan Erfolgsaussichten?“
„Naja“, druckste er schulterzuckend. „Immerhin hocken wir nicht untätig herum, bis uns die Typen finden.“ Er legte das Maschinengewehr ab und strich sich übers Gesicht. „Sie sind vor sechs Tagen gelandet und es grenzt an ein Wunder, blieb das Gefängnis mit unserem Camp unentdeckt. Die Hälfte unserer Leute könnten wir bestenfalls mit einem abgebrochenen Stuhlbein oder einem Ziegelstein bewaffnen, sie in einen Hinterhalt zu locken ist die einzige Option.“
„M-hm.“ Meghan blickte sich um. Zwar hatten sie auf dem Bergkamm wenig Deckung, dafür einwandfreie Weitsicht. „Tja. Mir kommt es so vor, als würden wir versuchen, eine Armee in eine Flohfalle zu locken. Ohne eine gehörige Portion Glück wird’s schwierig.“
„Das wird schon, du hast selbst behauptet, es sollte funktionieren.“
„Vor den anderen, ja. Ich wollte sie nicht noch unnötig beunruhigen, sie sind ohnehin schon völlig verängstigt. Die meisten unserer Leute würden hier draußen nicht lange überleben.“
Schweigend saß das Duo da und wartete, hoffte, jemand fände ihre Fährte. Als die Nacht über sie hereingebrochen war, meinte Meghan: „Hey, wenn wir sowieso höchstwahrscheinlich ins Gras beißen, kannst du mir ja endlich erzählen, was du früher gemacht hast. Du warst kein normaler Cop, oder?“
Mit einem Stöhnen lehnte sich Chris zurück und starrte in den Sternenhimmel, in dem die Milchstraße sichtbar war. Er antwortete erst nach mehreren Sekunden: „Okay, Meg. Aber du versprichst mir, das nie jemandem zu erzählen.“
Meghan verbiss sich die Anmerkung, dass sie wahrscheinlich eh alle bald tot wären und meinte stattdessen aufrichtig: „Okay, versprochen.“
„Staatspolizei“, entgegnete er einsilbig. Sie wusste, was das bedeutete. Jede Demonstration von Regimekritikern wurde von der Staatspolizei aufgelöst, die Dissidenten in dunkle Zellen gesteckt. Das Wissenskorps des Regimes, das die Geschichtsschreibung kontrollierte, arbeitete eng mit ihnen zusammen. Es war auch die Staatspolizei, die sie abgeholt hatte, als sie sich regimekritisch geäußert hatte. Sie hatte es längst geahnt, Chris war Teil des Regimes gewesen. „Und weshalb haben sie dich verbannt? Hast du einen dummen Witz über deine Bosse am Wasserspender gerissen? Kugelschreiber geklaut?“
„Nein, ich habe den Fehler gemacht, mit meiner Frau offen über unsere Welt zu sprechen. Mir war eines der Mikrofone in meiner Wohnung nicht aufgefallen, sie haben mitgehört und mich ins Exil geschickt. Keine Ahnung, wo sie meine Frau hingebracht haben.“ Er legte den Kopf in den Nacken und murmelte: „Ich werde ich sie nie wiedersehen.“
Meghan war hin- und hergerissen, ob sie mitfühlend oder zynisch sein sollte – seit einem Jahr war Chris ihr Kamerad, davor wäre er zweifelsohne ihr Feind gewesen, einer derer, denen sie die Verbannung gewünscht hätte. Doch jeder verdiente eine Chance, deshalb hatte sie ihren Verdacht für sich behalten, würde es auch in Zukunft tun. Sie entschied sich, ihn nicht weiter zu löchern. „Okay, anderes Thema: Was denkst du, wird …“
„Delta-Bravo an Delta-Foxtrott“, knisterte es aus dem Funkgerät, das sie einem der Verfolger abgenommen hatte. „Shit“, zischte Meghan, sie hatte nicht damit gerechnet, so früh von den verbleibenden fünf Gegnern zu hören. Chris bedeutete ihr, still zu sein.
„Delta-Foxtrott, Meldung.“
„Wir haben eine frische Fährte von zwei Personen. Scheinen bergauf gegangen zu sein. Weiterhin keinen Kontakt zu Alpha.“
„Verstanden, Foxtrott. Folgen Sie und Delta-Whisky der Spur. Gleiche Order wie bisher: Verhören, wenn möglich, ansonsten eliminieren.“
„Verstanden, Bravo. Over.“
„Ich fasse es nicht“, stieß Meghan geradezu amüsiert hervor. „Wer hätte gedacht, dass das klappt und dann erst noch in der ersten Nacht.“
„Jup“, wisperte Chris und nahm seinen Feldstecher zur Hand, mit dem er den Berghang unter ihnen abscannte. „Sie werden nicht in Sichtweite kommen, sofern sie der Spur bis zum Wallnussbaum hinterhergehen. Ich will trotzdem sichergehen.“
„Okay. Gut haben sie den ersten Typen nicht gefunden, vermutlich hat ein Saurier die Leiche aufgefressen.“ Angespannt hielt Meghan die Luft an, obwohl niemand außer Chris sie hören konnte, und kramte das zweite Funkgerät hervor, das von ihrer Gruppe stammte. Es dauerte mehr als zehn Minuten, in denen das Duo nahezu reglos verharrte, bis das Funkgerät wieder knackte.
„Delta-Bravo an Delta-Foxtrott: Die Spur endet neben einem Mammutkadaver und einer Patronenhülse. Keine weiteren Anhaltspunkte.“
„Verstanden. Suchen Sie die Gegend in einem Radius von …“
Meghan wusste, wo die beiden stehen mussten, drückte auf die Sendetaste des alten Funkgeräts und die Falle, die ihr Kamerad Steve gebastelt hatte, schnappte zu. Das zweite Funkgerät, angeschlossen an einen Lautsprecher und versteckt neben dem toten Mammut, gab schrille Laute von sich, die bis zu ihnen hoch drangen. Garantiert wurden die in der nahen Höhle schlafenden fleischfressenden Saurier geweckt, denn der Wald unter ihnen blitzte kurz darauf mit Maschinengewehrfeuer auf und Schüsse hallten zwischen den Bergen wider. Erneut quietschte das Funkgerät, das sie dem ersten Gegner abgenommen hatten. Der Soldat brüllte panisch: „Delta-Foxtrott, wir brauchen Verstärkung, hier sind Bestien, wir …“ Der Anfang eines gepeinigten Schreis war noch zu hören, dann wurde die Verbindung unterbrochen und das Tack-Tack-Tack der automatischen Waffen verstummte.
Meghan jubelte triumphierend: „Ich fasse es nicht, das hätte niemals klappen dürfen. Wir haben es tatsächlich geschafft, Chris!“
„Nicht übermütig werden, Meg, noch sind drei von denen übrig. Diese Sache ist nicht durchgestanden.“
Sie nickte, was er im fahlen Mondlicht wahrscheinlich nicht gesehen hatte und setzte sich hin. Auch wenn der Kamerad an ihrer Seite früher ein Feind gewesen war, so war sie doch dankbar, ihn in diesem Schlamassel als Freund zu haben.