Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Mit einem gefrorenen Grienen nahm der Kellner Ps vollen Teller, deutete eine Verneigung an und trottete in Richtung Küche.
„Tut mir leid, dass du das mitansehen musstest“, meinte P zu Mara, die ihm gegenüber saß und schweigend in ihrem Lachs herumstocherte. „Manchmal muss man sich behaupten.“ Über Ps Nase verlief eine tiefe Furche, direkt vom unteren Rand des linken Nasenflügels bis zum inneren rechten Augenwinkel. Die gräulich lilafarbene Linie hatte P, wie er nie müde wurde zu erzählen, er von einem Angriff des Tigers erhalten. Neue Bekanntschaften ließen sich von dieser Geschichte immer fesseln; zum einen natürlich, weil Raubtierattacken als seltenes Ereignis grundsätzlich spannend waren, zum anderen, da jeder erfahren wollte, wie P zu so einer scheußlichen Narbe gekommen war. Die Neugier versiegte allerdings sogleich, wenn P erwähnte, dass es sich bei dem berüchtigten Tiger um den uralten Kater seiner Tante May gehandelt hatte und dieser täglich vier Tabletten benötigte, zwei davon zur Regulierung des Stuhlgangs. Wieder mehr Interesse erzeugte, wie das Tier schlussendlich gestorben war; es fraß Tante Mays Nase und drei Kilo ihrer immensen Leibesfülle, nachdem diese, von Nachbarn unbemerkt, auf dem Sofa einen Herzanfall erlitt, und erstickte am Fleisch der einzigen Person, die den Tiger leiden konnte.
Auf jeden Fall trug P stets einen feinen Zwirn, um seinem prägnanten Aussehen etwas Edles zu verleihen, er möchte ja niemanden abschrecken. Nun, deswegen und weil ein gewisser Charme zu seinem Job gehörte. In eingeweihten Kreisen nannte man ihn den Ladykiller. Meistens haftete der Bezeichnung einer gehörigen Portion Abscheu an, da in seiner Branche „Keine Frauen, keine Kinder“ weiterhin ein populäres Credo war, was er sexistisch fand und wohl dem Gedanken unter seinen Arbeitskollegen geschuldet war, ausschließlich jene zu töten, die es auf irgendwie verdient hätten. P hielt das auf zweierlei Weise für lächerlich: Einerseits standen Frauen den Männern in Niederträchtigkeit nichts nach und zum anderen war diese Idee, lediglich bösen Leuten das Leben zu nehmen, eine irrelevante sowie fehlerhafte Annahme, eine peinliche Rechtfertigung, die nur dazu diente, das Gewissen des Killers zu besänftigen. Kinder waren tatsächlich eine ganz eigene Kategorie, eine, die sehr zu Ps Freude, besonders hoch honoriert wurde.
Mara schob sich einen Bissen des fettigen Fischgerichts in den Mund, kaute erst gemächlich und dann noch gemächlicher, als P sie fragte: „Und, Mara, was macht eine Maklerin wie du in der Freizeit?“ Offensichtlich unwillig, ihr träges Gespräch erneut aufzunehmen, kostete sie jede einzelne Faser des Lachs bis aufs letzte aus, so lange sich das Schlucken eben hinauszögern ließ.
„Skifahren“, brummte sie zugeknöpft, bevor sie gleich die nächste Gabelvoll an die Lippen führte. P war ein ausgezeichneter Menschenkenner, auch das eine Notwendigkeit für die Ausübung seines Berufes, doch selbst ein blinder, tauber und geistig liegengebliebener Trottel hätte Maras Körpersprache korrekt gedeutet; sie hasste dieses Date, sie hasste das Essen und sie hasste P. Er schmunzelte, schenkte ihr nach und stellte fest: „Ah, gut. Skifahren ist gut.“ Mara war keine Schönheit, eher im Gegenteil; sie war den Vierzigern näher als den Dreißigern, ein wenig zu dick und sah verlebt aus. Das macht P freilich nichts aus, er hatte es mit Frauen wie mit Autos, bevorzugte das stabil Alte, Verbrauchte und hatte wenig übrig für Glänzendes. Deshalb hegte und pflegte er den in die Jahre gekommenen Volvo seines längst begrabenen Vaters, statt sich von seinen durchaus ansehnlichen Gagen einen Ferrari zu kaufen. Anders als Mara wusste der Volvo seine Bemühungen zu schätzen und das wiederum schätzte P am Volvo, zumal er ungern Zeit mit Menschen und Dingen verbrachte, die das gar nicht wollten.
Der Kellner kehrte mit einem neuen Gericht für P zurück. „Ich hoffe, es ist jetzt alles zu Ihrer Zufriedenheit.“ P zog den Duft der dampfenden Speise in seine vom Tiger verunstaltete Nase hoch und nickte erfreut. „Fabelhaft. Ich danke Ihnen.“ Damit entschuldigte sich der Kellner und überließ die beiden Unverliebten ihrer stockenden Unterhaltung.
„Und“, begann Mara lustlos. „Fahren Sie auch Ski?“ P zuckte mit den Schultern und überlegte, ob der Aprésski-Ausflug mit Frau Peters, welche er nach einem Schlummertrunk im Hotelbadezimmer von seiner Liste gestrichen hatte, zählte, entschied sich aber dagegen. „Nein, ich bevorzuge Hobbies, bei denen man im Warmen sitzen kann.“ Maras „aha“ verlief ins Leere, sie hatten sich nichts zu sagen.
„Mara, hören Sie, ich habe einen Vorschlag“, holte P neuen Mutes aus und erläuterte seinen Einfall mit gar übertriebenem Enthusiasmus: „Was halten Sie davon, wenn wir unser Mahl im gegenseitigen Einverständnis beenden, dass wir mangels Gemeinsamkeiten und Sympathie im Anschluss an diesen Abend getrennter Wege gehen. Vorher jedoch …“ Er pausierte und sie schaute verdattert von ihrem zerfledderten Lachs auf, plötzlich aufmerksam, ja, geradezu erwartungsvoll.
„Vorher, was?“, unterbrach sie die geladene Stille. „Was vorher?“ P grinste, verlängerte die Sprechpause noch ein Weilchen. Ja, er war in der Tat ein erstklassiger Menschenkenner und als solcher war im klar, dass Frauen wie Mara sich von derart unverschnörkelten Ansagen betören ließen, immerhin hatte es bei einer Vielzahl seiner bisherigen Aufträge funktioniert; in ihrem Alter und mit ihrem Äußeren hatte sie keine Zeit zu verlieren, das übliche Date-Geplänkel war für sie vermutlich bloß ein notwendiges Übel, um endlich den einen Mann zu finden, der sie davor bewahrt, wie Tante May vergessen und von ihrer Katze gefressen zu werden, selbst wenn dieser kein Skifahrer war. Er mit seiner ungeschönten, unverblümten Art, musste in der Linie aus schleimigen Typen eine erfrischende Ausnahme sein und exakt das machte ihn trotz fehlenden Gemeinsamkeiten und der ausbleibenden Sympathie, zu einem valiablen Kandidaten. „Vorher gehen wir in die Hotelbar und gönnen uns im Beisein eines Leidensgenossen im brutalen Dating-Dschungel einen kräftigen Drink.“ Argwöhnisch neigte sie den Kopf zur Seite, kniff Augen sowie Burgunderrot geschminkten Mund zum Strich. „Kein Sex, kein Wiedersehen“, intervenierte er, zerstreute ihre Skepsis, zumindest genug, um sie zur Zustimmung zu bewegen. „Nur ein Whiskey.“
„Das war wirklich herrlich“, schwärme Mara kichernd und zupfte ihren Rock zurecht, der sich im steifen Wind verfangen hatte. „Kommst du auf einen Kaffee mit hoch?“ P griff ihre Tasche vom Rücksitz seines Volvos und reichte sie ihr mit einem harmlosen Lächeln. Sie löste die Schnalle des Sicherheitsgurts, lehnte sich zu ihm und legte ihre Hand auf seinen Unterarm. „Na? Was meinst du?“
„Wenn du magst. Ich könnte einen Kaffee vertragen.“ Als Gentlemen stieg er rasch aus und hastete zur Beifahrertür, um ihr aus dem Auto zu helfen. „Gib mir doch noch ein paar Minuten und geh vor“, bat er sie zur Haustür begleitend. „Ich muss einen kurzen Anruf machen. Geschäfte, du verstehst?“
„So spät? Du bist wohl ein wichtiger Mann in deiner Firma“, säuselte sie beeindruckt, ehe sie sich von ihm löste und den Schlüssel steckte. „Perfekt, dann setze ich schon mal den Kaffee auf.“ Ihr entging, wie sich sein Lächeln in ein breites Grinsen verwandelte, während sie die Tür öffnete, eintrat und auf der Schwelle balancierend flötete: „Beeil dich.“
Kaum hatte sie die beiden ersten Stufen zum Obergeschoss erklommen, fischte P sein Wegwerftelefon aus der Sakkotasche. Das Freizeichen ertönte viermal, bis die Auftraggeberin sich meldete: „Ja.“
„Einen wunderschönen guten Abend“, raunte P ruhig darauf wartend von ihr erkannt zu werden.
„Sie … Sie sind es.“ Ihre Stimme erzitterte sofort. „Ist es … erledigt?“
„Nein. Es ist üblich, vor der Durchführung eine letzte Einwilligung einzuholen“, erklärte er und stellte derweil seinen Koffer mit dem Equipment neben dem Volvo auf den Bürgersteig. „Wir wollen schließlich keine Fehler machen, Frau Schubert.“ Er klang freundlich und war bedacht, das Folgende deutlich auszusprechen: „Möchten Sie weiterhin, dass ich Mara Klein töte?“
„Ja“, kam die Bestätigung ohne Umschweife.
„Hervorragend. Ich mache mich umgehend an die Arbeit und melde mich später.“ P hängte auf, speicherte die Aufnahme ab und schlenderte mit seinem Koffer zum Hauseingang. Bald würde er nicht bloß wissen, welche Geräusche Mara beim Erdrosseltwerden von sich gäbe, sondern ebenso, wie die Antwort auf seine übliche Frage: „Was ist es Ihnen wert, die Aufnahme unseres Telefonats unter Verschluss zu behalten?“ Motivierten Schrittes sprang er die Treppe zu Maras Wohnung hoch, klingelte und besann sich: Erst töten, dann fragen.