Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Warnung: Diese Kurzgeschichte enthält Szenen, die auf einige Leser beunruhigend wirken könnten. Mehr zu unseren Warnungen sowie wann und weshalb wir sie anwenden, erfahrt ihr in unseren FAQ.
Tony kniet keuchend auf dem festgefrorenen Boden. Sein Atem bildet Dampfwolken, die Luft brennt in seinem Hals und seine Muskeln zittern vor Erschöpfung. In der Dunkelheit, die selten von ein paar durch die Wolkendecke dringenden Mondstrahlen erhellt wird, ist es ihm unmöglich, sich im Wald zu orientieren; er ist weitab jeder Zivilisation. Minutenlang sitzt Tony reglos da, dann steckt er seine Hände in die Jackentaschen und bekommt den kleinen Plüsch-Pinguin zu fassen, den er für seine fünfjährige Tochter gekauft hat. Das muss vor einer schieren Ewigkeit gewesen sein. Danach … Nein, daran darf er keinesfalls denken, scheltet er sich innerlich. Sein Hirn ignoriert ihn, ruft zuverlässig die peinigende Erinnerung hoch und Tony speit Magensäure auf den Schnee.
Vor mehreren Stunden war Tony in einer Blockhütte an einen Stuhl gefesselt aufgewacht. Schlaftrunken schaute er sich in einem relativ großen, ihm unbekannten Raum um: Auf einem spartanischen Tisch stand eine Ölfunzel, die Wände vor ihm sowie zu seiner Rechten waren mit weißen Leintüchern verhangen. Kaum hatte er die ersten Details seiner Umgebung erfasst, quietschte hinter seinem Rücken eine Tür und er vernahm Schritte. Weshalb war er hier, was war geschehen? Sofort wunderte er sich, ob es um seinen Job ging. Dabei hatte er nicht einmal Zugang zum Safe, er war lediglich ein unbedeutender Bankier mit Familie und einem Häuschen in der Vorstadt … Sein Gedankengang wurde unterbrochen, als sich zwei in Schwarz gekleidete Fremde, ein Mann und eine Frau, vor ihm aufbauten.
„Guten Abend“, donnerte der Mann erstaunlich freundlich. „Bestimmt haben Sie Fragen, die wir leider unbeantwortet lassen müssen.“
Perplex musterte Tony sein Gegenüber. In was um Himmelswillen war er da geraten? Der Fremde fuhr fort: „Ach, wie unhöflich von mir! Sie haben sicher Hunger und Durst.“ Damit wandte er sich an seine Kameradin. „Was haben wir da?“
Die Angesprochene marschierte um Tony herum, ihr Kollege grinste gleichmütig, kurz darauf tauchte sie wieder in seinem Blickfeld auf und trug eine Keksdose und ein Glas Saft.
„Bitte, Sie sollten sich stärken, sie waren mehrere Tage weggetreten.“
Sie hielt ihm einen Keks hin, sodass er sich ein Stück abbeißen konnte und Tony öffnete wie automatisch den Mund. Er kaute auf dem trockenen Ding, das zwar gut, wenn auch seltsam schmeckte. Sekunden später spuckte er die Pampe in seinem Mund aus, in der Angst, man habe ihm gerade Gift gefüttert.
„Scheiße, was ist das für Zeug?!“
„Hey, die sind selbstgebacken“, beschwerte sich die Frau und er glaubte in ihrer Zügen Brüskierung zu lesen. Was waren das bloß für Kidnapper? Waren es Kidnapper? Er war unfähig, sich einen Reim zu machen. Die Fremde hatte sich derweil mit der Keksdose an den Tisch gesetzt und aß ihr Gebäck schmollend selbst. Kein Gift, also, stellte er erleichtert fest. Der Mann, offenbar kein bisschen beleidigt, bot ihm den Saft an.
„Es tut mir leid, haben Ihnen die Kekse nicht geschmeckt, aber …“ Tony wollte die beiden Irren anbrüllen, erfahren, was sie mit ihm vorhatten, was zum Teufel los war. Doch er konnte nicht. Als folgte er einem allmächtigen Drehbuch, nippte er an dem Tomatensaft. Es war schwierig, aus einem Glas zu trinken, das jemand anderes hielt; in den Filmen sah das immer so einfach aus. Obwohl der Großteil des Getränks in seinem Mund landete, kleckerte er auf sein Hemd. Auch der Saft schmeckte ungewohnt, dafür wenigstens nach Tomate.
„Nun denn“, meinte der Mann und ließ sich neben seiner Frau am Tisch nieder. „Wahrscheinlich möchten Sie so einiges wissen, Sie müssen sich allerdings überraschen lassen.“ Seine Miene hellte sich auf. „Eine Antwort können wir Ihnen trotzdem schon geben, und zwar auf eine Frage, an sie Sie noch nicht einmal gedacht haben.“
„Wa … Was?“, stotterte Tony.
„Sie sind ein verdammt undankbarer Gast“, keifte die Frau, deren Stimmung schlagartig gekippt war. In einem Wutausbruch fuhr sie ihn an: „Mein Mann hat Ihnen gesagt, wir beantworten keine Fragen, was erlauben Sie sich eigentlich?“ Entrüstet sprang sie auf, stapfte durch den Raum und schlug hinter seinem Rücken die Tür zu.
Für einen Moment herrschte Stille, schließlich brummte der Fremde: „Sie müssen entschuldigen, sie ist noch wegen der Kekse eingeschnappt.“ Wesentlich besser gelaunt fügte er an. „Sie ist nie lange sauer. Ach, übrigens …“ Er erhob sich und kramte eine Fernbedienung aus der Jackentasche. „… wir haben ein gutes Unterhaltungsprogramm.“ Ein Beamer projizierte ein grelles Rechteck auf das Leintuch von ihm. „Viel Spaß“, gluckste der Mann, ehe er aus dem Raum ging und die Tür hinter sich schloss.
„Wer sind diese Wahnsinnigen?“, murmelte Tony irritiert, bevor das grelle Weiß einem Videobild Platz machte. „Liebe Zuschauer“, tönte ein Erzähler aus dem Off, „heute möchten wir Sie in die Kunst der Lebensmittelzubereitung einführen. Alles beginnt mit der Jagd …“
Entsetzt blendete Tony die Stimme aus, als er das Innere seines Hauses auf der Leinwand erkannte. Die Kamera bewegte sich, ganz so als suchte ihr Träger die Räume ab. Dann langte sie in der Küche an und zeigte seine Frau, Carla, die am Herd kochte, Tracey, das fünfjährige Töchterchen, spielte daneben mit ihrer Holzeisenbahn.
„… die Beute ist ahnungslos, denn unsere Jäger sind sehr leise und geübt …“, drangen die Worte des Erzählers, der ungerührt klang, in seinen Geist. Tony verkrampfte sich, das musste ein Albtraum sein! Im nächsten Augenblick durchbohrte ein Pfeil Carlas Kopf und sie fiel der Länge nach neben Tracey zu Boden. Er wollte wegsehen, blieb wie gelähmt sitzen … Tracey wimmerte laut „Mama!“ und Tony schaffte es, die Lider zuzudrücken, hörte dennoch den dumpfen Schlag aus den Lautsprechern dröhnen.
„ … für den Nachwuchs, der meist in der Nähe der Mutter verweilt, reicht normalerweise eine simple Keule“, kommentierte die perfekt modulierte Stimme teilnahmslos. „Die sachgemäße Schlachtung werden wir in einer separaten Episode zeigen, damit wir zum interessanten Teil unserer Sendung, der Zubereitung, kommen können. Heute: Kekse mit menschlichem Hüftspeck und Tomatensaft mit frisch gepresstem …“ Tony schrie derart laut auf, dass er den Rest des Satzes übertönte. Tränenüberströmt übergab er sich, wobei die Überreste seines Mahls, seiner Familie, auf dem Boden und in seine Schoss tropften. „Bitte“, stieß er zwischen Würgen hervor, ohne zu wissen, wen er anflehte. Er vermied es auf die Leinwand zu sehen, während der Erzähler akribisch beschrieb, mit welcher Technik sich Menschen häuten ließen. Es raschelte. Aufgeschreckt drehte er sich zur Seite und erstarrte. Das Leintuch rechts von ihm war heruntergefallen und gab den Blick auf eine mit Jagdtrophäen bedeckte Wand frei. Neben einem Hirschkopf mit imposantem Geweih erspähte er Carlas und Tracyes Gesichter. Präpariert wie Wild, in ihren Mündern steckten Tannenzweiglein, die Bruchzeichen. Dieser Ort war die Grabstätte seiner Familie; genauso wie sein Magen. Wie von Sinnen schluchzte er auf, begleitet von dem teilnahmslosen Sprecher.
„… selbstverständlich sind Entsafter nicht für die Zubereitung von Kleinkindern konstruiert, jedoch gibt es dafür einige nützliche Tipps, die …“
Tony gelingt es in die Gegenwart zurückzukehren. Er will sich nie wieder an diesen scheußlichen Film erinnern, auch nicht an seine Flucht. Er wünscht sich bloß, aus diesem Albtraum aufzuwachen. Matt rappelt er sich auf, stolpert und fällt auf die Knie. Er kann nicht mehr rennen, kann nicht mehr gehen. Vielleicht ist es das Beste, wenn sie ihn finden, der Sache ein Ende setzen. Nein! Erneut versucht er aufzustehen, diesmal gelingt es ihm. Reglos steht er im Wald, lauscht entfernten Schritten, die plötzlich innehalten. Ein Pfeil durchschneidet die Nachtluft, trifft auf seinen Schädel. Endlich ist er frei.
„Alles ist gut“, redet eine Frau beruhigend auf ihn ein und Tony schlägt verwirrt die Augen auf, wird sogleich vom grellen, kaltweißen Licht geblendet. Er braucht eine Weile, bis er die Frau im Laborkittel, die sich über ihn beugt, erkennt. „Sie hatten einen Albtraum“, säuselt sie und nimmt routiniert seine Frage vorweg. „Sie müssen das jetzt für einen Plottwist halten, aber es ist die Realität. Sie sind …“
Da kehrt alles auf einen Schlag wieder, jedes Detail: Der Autounfall, der seine Familie ausgelöscht hat. Sein Nervenzusammenbruch, Arbeitslosigkeit, das Trinken, die Einsamkeit. Die schreckliche Einsamkeit. Dann das Inserat, in dem gut bezahlte Probanden gesucht wurden, seine letzte Hoffnung. Schlussendlich dieses unterirdische Labor, in dem sie …
„Was erforscht ihr überhaupt?“, hustet Tony, als er sich aufsetzt und die anderen Schlafenden begutachtet, die an dieselben Geräte angeschlossen sind wie er.
Die Laborassistentin schüttelt den Kopf. „Sie wissen, ich darf Ihnen keine Auskunft geben, dies ist ein geheimes Programm.“
„Ich kann das nicht mehr“, bettelt er.
Mitfühlend legt sie ihm eine Hand auf die Schulter. „Keine Bange, laut Vertrag haben Sie nur noch dreihunderteinundsiebzig Simulationen vor sich, dann ist es vorüber.“