Traumfänger

„Nein, du kannst jetzt nicht Star Wars kucken“, hatte Mom gesagt, als sie die Videokassette eingepackt hatte. „Wir können den Film aber bald mal wieder ausleihen. Bis nachher, Schatz.“ Mit diesen Worten hatte sie sich abgewandt und war hastig die Treppe hinab ins Untergeschoß des Einfamilienhauses gegangen, um schließlich in der Garage zu verschwinden, in den Minivan zu steigen und zur Videothek zu fahren. Ich war zurückgeblieben, in meinem Zimmer sitzend und hatte ihr hinterhergesehen, bevor ich zu meinem Schreibtisch gegangen war, das Tagebuch aufgeschlagen und zu schreiben begonnen hatte.

„Es wird sicher eine schöne Trauerfeier werden. Mom hätte sie geliebt, mit all den Leuten, die auftauchen werden“, riss mich Chelsea aus der Lektüre meines Tagebuchs, das mich an einen Schrein für meine verlorene Kindheit und Jugend erinnerte. Ich blickte auf und versuchte herauszufinden, ob der Unterton in Chelseas Stimme Wehmut oder Verachtung hätte sein sollen, doch ich war noch nie besonders gut darin gewesen, Subtext aus menschlichen Stimmen zu lesen, also ging ich einfach davon aus, dass sie aufrichtig war und nickte. „Wahrscheinlich hast du Recht“, murmelte ich schulterzuckend und Chelsea wandte sich ab und verließ das Zimmer. Als die jüngere Schwester hatte ich es in meiner Kindheit nicht immer einfach gehabt, und selbst wenn ich ihr mittlerweile vertrauen konnte, so wusste ich doch, dass wir nie die dicksten Freundinnen sein würden. Doch es machte mir nichts aus, Chelsea lebte in ihrer Welt und ich in meiner und ab und an berührten sich unsere Welten, kurz und flüchtig. Ich seufzte und begann wieder damit, die Überbleibsel meines alten Lebens zu sortieren, denn wir mussten nicht bloß alles was Mom uns hinterlassen hatte, aufräumen, sondern gleich das ganze Vorstadthaus – der Immobilienfritze würde es in einer Woche den erster Interessenten zeigen wollen. Während meine Hände sich mit der beinahe starrsinniger Entschlossenheit durch den Papierkram auf dem Tisch wühlten, fiel mir ein alter Wunschzettel auf, und zog ihn zu mir. Er musste aus meiner frühen Kindheit stammen, denn er war an den Weihnachtsmann adressiert. Der größte Teil war abgerissen, doch ich konnte noch lesen: „Star-Wars-Trilogie auf Videokassette.“ Ich musste schmunzeln, griff erneut zum Tagebuch, blätterte und fand schließlich die Seite mit dem richtigen Datum.

Es war einige Tage vor Weihnachten gewesen, als Mom gesagt hatte, wir sollten unbedingt unsere Wunschzettel ausgefüllt haben. Ich hatte mich hingesetzt und sofort gewusst, was ich wollte, was ich seit dem verhängnisvollen Tag gewollt hatte, an dem sie das Leihvideo hatte zurückbringen müssen. Und so hatte ich meinen größten Wunsch unverzüglich niedergeschrieben und den Zettel an den Weihnachtsmann adressiert.

Und an das Resultat erinnerte ich mich noch genau, denn tatsächlich ging einer meiner größten Träume in Erfüllung, als ich das Geschenkpapier aufgerissen und voller Glückseligkeit auf die drei Videokassetten gestarrt hatte. Doch auch wenn ich mit dem unsterblichen Science-Fiction-Spektakel meine Jugend assoziierte, so war es doch meine Familie, mit der ich meine meiste Zeit verbracht hatte. Mom, die immer vom Amerikanischen Traum gepredigt hatte und davon, etwas aus sich zu machen (was ich als erfolgreiche Anwältin natürlich getan hatte), Chelsea, die ihr Leben als Cheerleaderin genoss und der Labrador Bob, der nichts weiter als seinen meist leeren Futternapf im Kopf gehabt hatte. Unser Dad war gestorben, als ich noch ganz klein gewesen war und die Sache schien für Mom so schlimm gewesen zu sein, dass sie ihn kaum je erwähnte und alles in peinliche Stille gehüllt war, sobald eine von uns das Gespräch auf ihn brachte. Und jetzt, viele Jahre später, war auch Moms Zeit gekommen – offenbar hatten sich die zwei Schachteln filterloser Zigaretten und die drei Gläser Wein pro Tag gerächt.

Doch was war dieser Amerikanische Traum, fragte ich mich heute und hatte ich ihn denn erreicht? Ich musste mir nicht im Geringsten Sorgen um meine finanzielle Sicherheit machen, spielte Golf mit meinem liebevollen Ehemann und war CEO meiner eigenen Anwaltskanzlei. Doch hatte ich den Amerikanischen Traum meiner Mutter damit so kompromisslos in die Tat umgesetzt, wie ich dachte und warum um alles in der Welt verkleidete ich mich immer noch bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf Science-Ficition-Convetions als Prinzessin Leia? War das alles, all die Träume von den großen Dingen, wie meine Mutter zu sagen pflegte, im Grunde doch nichts weiter als eine ferne Träumerei, unerreichbar und ohne Substanz?
Ich faltete meinen Wunschzettel sorgfältig zusammen und steckte ihn in meine Brieftasche und lächelte stumm, als ich an das Leuchten in den Augen meiner Mutter dachte, als sie mir mein liebstes Geschenk überreicht hatte und da fiel es mir plötzlich auf: Das Haus in der Vorstadt, der Chevy in der Auffahrt, die gemeinsam verbrachten Dinner und das Fell unseres Hundes, all das und noch so viele andere Jugenderinnerungen rauschten durch meine Gedanken. Vielleicht hatte meine Mutter, nein, wir alle die ganze Zeit über genau dieses traumhafte Leben geführt, ohne es wirklich bemerkt zu haben. Dieses Kinderzimmer, dieser seit Jahren unberührte Schrein meiner vergangenen Jugend, war ein Zeuge davon, dass man sich nicht so sehr verändert, wie man manchmal vermuten mochte. Träume sind nichts weiter als das, sie sind nur da, um geträumt zu werden. Doch viel mehr als diese Tatsache begriff ich: Star Wars begleitet dich – oder uns alle – ein Leben lang.

Autorin: Sarah
Setting: Kinderzimmer
Clues: Verachtung, Star Wars, Tagebuch, Kassettenrecorder, Wunschzettel
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