Diese Story ist auch als Podcast-Episode erschienen.
Dies ist der 3. Teil der Fortsetzungsgeschichte „107 Minuten“.
Patrizia seufzte und warf einen sehnsüchtigen Blick auf die laut tickende, alte, weiße Kunststoffuhr, die über der Eingangstür ihres Ladenlokals hing: Es war beinahe viertel nach Neun, nicht mehr lange und sie würde Feierabend machen. Wieder ein Tag, an dem sie von einem Streit erfahren hatte, den diese unmögliche Frau mit ihrem Sohn angezettelt hatte. Sie versuchte den Gedanken zu verdrängen, denn auch wenn sie diese Person nicht leiden konnte, es war die Entscheidung ihres Sohnes und damit musste sie leben. Das Geräusch einer Krankenwagensirene riss sie aus ihren Gedanken und sie konnte für einen kurzen Moment das Blaulicht sehen, das sich im Schaufenster ihres Kiosks spiegelte. Genervt drehte sie das Radio lauter; in einer Gegend, in der sich das Nachtleben der Stadt abspielte, war der Lärm der Sirenen ein fester Bestandteil des Alltags und störte höchstens ihre Ruhe.
Patrizia lebte schon seit ihrer Jugend in diesem Quartier und ihr Kiosk war seit langem ein Treff für die alteingesessenen Anwohner, die an den Bistrotischen saßen und sich bei Kaffee und Croissants über Lokalpolitik und das Leben unterhielten. Die resolute Mittfünfzigerin war längst eine legendäre Figur in dem Stadtkreis geworden, welche die Kaufgewohnheiten ihrer Kunden auswendig kannte und stets für einen Schwatz aufgelegt war. Jetzt war der Laden leer, die letzten beiden Männer, die gemeinsam ein Bier getrunken hatten und sich lautstark über die steigenden Zigarettenpreise ausgelassen hatten, waren vor ein paar Minuten gegangen. Sie war ziemlich müde und hätte heute gerne früher Schluss gemacht, doch wenn sie nicht mit hohem Fieber im Bett lag, gab es keinen Grund, sich vor der Arbeit zu drücken, außerdem konnte sie so noch ein paar Kisten im Hinterzimmer auspacken und die Kaugummis einsortieren. Entschlossen ging sie durch den Perlenvorhang nach hinten, griff nach dem Teppichmesser und schnitt den ersten Karton auf, in dem die Süßigkeiten aufgereiht waren wie Sardinen in einer Dose. Während sie im Kopf überschlug, wie viele „Super-Chews“ sie nachfüllen müsste, konnte sie das Bimmeln der Glocke hören, die über der alten Ladentür angebracht war, dann ein Rumsen, als die Tür unsanft zugeschlagen wurde.
„Schon wieder so ein Trampel“, murmelte sie, bevor sie durch den raschelnden Vorhang nach vorne ging, um ihren Kunden zu bedienen.
Der etwas zu kurz geratene junge Mann wirkte sehr ausgemergelt und irgendwie verschüchtert. Sein ungepflegtes, dunkles Haar klebte ihm verschwitzt auf der Stirn und er sah sich paranoid um. „Natürlich, wieder so ein Junkie“, dachte sich Patrizia und machte sich auf ein langes Feilschen um irgendwas Essbares gefasst, dies wäre bei weitem nicht ihr erstes Mal. „Was möchten sie denn gerne, junger Mann?“, fragte sie. Der Fremde wich ihrem Blick aus und blieb ihr nur halb zugewandt wenige Schritte vor der Ladentheke stehen, wobei er immer wieder einen nervösen Blick zur Tür warf. „Sie sind hinter mir her“, erklärte er gehetzt.
„Nana“, sagte Patrizia beruhigend und gleichgültig, seine Sorte war sie sich gewohnt. Im Rausch hatten solche Junkies die wildesten Vorstellungen davon, was gleich passieren musste und die Sirene vom Krankenwagen musste ihn aufgeschreckt haben. „Wer soll denn hinter ihnen her sein?“
„Einfach alle“, rief er aufgeregt aus. „Sie müssen mich verstecken!“
„Machen Sie sich mal keine Sorgen, niemand will Ihnen was tun“, entgegnete sie. „Was möchten Sie denn gern, vielleicht eine Cola?“
„Nein, Sie verstehen nicht – sie müssen mir helfen!“ Etwas in seinem Gesicht gab ihr ein mulmiges Gefühl und ließ sie fast erstarren. Nein, mit diesem Mann stimmte etwas ganz und gar nicht. Vorsichtig und so langsam sie konnte bewegte sie ihre rechte Hand angespannt unter den Tresen. „Es tut mir leid, aber wenn Sie verfolgt werden, müssen Sie zur Polizei gehen“, gab sie resolut zurück und schlug dann etwas freundlicher vor: „Wenn Sie wollen, kann ich sie rufen…“
„Nein!“, unterbrach er sie panisch. „Keine Polizei!“ Bevor Patrizia etwas entgegnen konnte, fuhr er herum und sie konnte erkennen, dass er in der, ihr bisher abgewandten, Hand eine Pistole hielt. Er hob die Waffe, richtete sie auf ihre Brust und sagte erschreckend ruhig: „Sie müssen mich verstecken!“
Patrizia starrte entsetzt auf den zitternden Lauf der Pistole, die in der knochigen Hand des Junkies viel zu groß wirkte und antwortete dann langsam und beherrscht: „Ich kann Sie nicht verstecken. Nehmen Sie das Ding aus meinem Gesicht.“
„Nein“, schrei er aufgewühlt und fügte dann mit sich überschlagender Stimme hinzu: „Ich will dir nichts tun, aber wenn du mir nicht hilft, erschieße ich dich!“
„Beruhigen Sie sich – bitte“, sagte Patrizia beschwörend und versuchte, möglichst gelassen zu bleiben, während ihre Hand das kurze Gewehr ertastete, das sie für solche Fälle unter der Ladentheke versteckt hatte. Auch wenn sich bisher noch niemand gewagt hatte, sie zu überfallen, diesmal schien es bitterer Ernst zu sein. Das erste Mal rutsche sie ab und langte gleich nochmals zu, dann hielt sie das Gewehr in ihrer Rechten.
„Verdammt, ich mache keinen Spaß“, rief der junge Mann. „Ich töte Sie!“ Dann hob er ohne weitere Vorwarnung die Waffe und schoss in die Decke. Der laute Knall schmerzte in Patrizias Trommelfell und ohne nachzudenken riss sie das Gewehr unter der Ladentheke hervor und drückte ab. Das Geräusch des Schusses zerriss die Luft wie eine Explosion, einmal, zweimal. Mit einem rumpelnden Plumpsen stürzte der junge Mann hintenüber und ließ die Waffe los, die klappernd neben ihm auf den Boden fiel. Erstarrt stand Patrizia da und konnte in der hereingebrochenen Stille ihr eigenes Herz rasen hören. Dann legte sie das Gewehr sehr vorsichtig auf die Theke, ihre Finger zitterten nicht. Schockiert starrte sie auf den jungen Mann, der mit einem angesengten Hemd und weit aufgerissenen Augen auf dem Rücken auf dem alten, schwarzweiß gefliesten Boden in einer sich gleichmäßig ausbreitenden Blutlache lag.
Mechanisch griff sie zum Telefonhörer und tippte die drei Zahlen ein. Bereits nach dem ersten Freizeichen meldete sich eine befremdlich kühle und abwesende Stimme: „Polizeinotruf, was ist ihr Notfall?“
„Mein Name ist Patrizia Krämer. Ich habe einen Mann erschossen“, sagte Patrizia klar, aber leise. Bevor die Telefonistin dazu kam, mehr zu fragen, sagte sie ihre Adresse und legte auf. Sofort wählte sie die Nummer ihres Sohnes, sie musste jetzt mit ihm sprechen, bevor sie vollständig die Kontrolle über ihre Gefühle verlor. Doch statt dem Freizeichen erklang nur die Standardansage: „Bitte rufen Sie später an; der gewünschte Gesprächsteilnehmer ist momentan nicht erreichbar.“ Hastig unterbrach sie die Verbindung und begann damit, seine Festnetznummer zu wählen.