Der Hinterhalt kam unerwartet. Gerade eben hatte Jess noch ihre Hände mit Desinfektionsmittel eingerieben und müde in den unglaublich zerkratzen Spiegel des kleinen Toilettenräumchens gestarrt, dann war ohne Vorwarnung das Licht erloschen und jemand hatte sie von hinten gepackt. Sie konnte die kräftigen Arme schmerzhaft fühlen, die sie umfassten und hochzuheben versuchten und kämpfte nicht nur verzweifelt gegen den festen Griff, sondern auch gegen die in ihr aufkeimende Panik an. Innert Hundertstelsekunden blitzen vor ihrem geistigen Auge unzählige Szenen und Assoziationen auf, von denen jene, in der ihr Köper mit durchgeschnittener Kehle auf dem Schachbrettmuster der abgewetzten Fliesen in einer lächerlich roten Blutlache lag, wohl die harmloseste war. Dann war der Augenblick vorüber, die bodenlose Angst verflog und ihr Kampfinstinkt erwachte, gepaart mit einer gesunden Rage und mit aller Kraft, welche die zierliche, doch trainierte Frau aufbringen konnte, trat sie zu.
„Das ist nicht witzig“, murrte Donnie mit schmerzverzerrtem Gesicht, während er einen Eisbeutel gegen seine Lendengegend drückte. Der Hüne, der zugleich der Türsteher des unglaublich hippen Kabaretts im Künstlerviertel der Stadt war, lehnte sich auf dem alten, knarrenden Holzstuhl zurück und atmete noch immer schwer, bevor er nach dem Whiskyglas auf der grünen Tischplatte griff und einen großen Schluck nahm. „Da kann ich dir nur zustimmen“, murrte Jess trocken, während sie sich gerade fragte, wieso sie den gescheiterten Stand-Up-Comedian als Türsteher eingestellt hatte, denn wie sie eben selbst erfahren hatte, ließ sein Sinn für Humor wirklich zu wünschen übrig. Doch jemand musste all die betrunkenen und ausfallenden Baby-Hipster (die übrigens genauso humorlos waren wie Donnie) beseitigen und dafür war er mehr als nur geeignet. Und dass sie ihn gerade eben erstaunlich leicht ausgeschaltet hatte, damit konnte sie gut leben, schließlich besuchte sie jede Woche brav ihr Kampfsporttraining und nahm auch die blauen Flecken gerne in Kauf. Ihre Gedanken sprangen etwas zurück und sie murmelte: „Moment mal, Hipster…“
„Was is‘ denn mit denen?“, murrte Donnie, der sich langsam erholt zu haben schien, doch dessen Laune noch immer im Keller war. Jess antwortete nicht, zog ihr schwarzes Moleskine-Notizbuch aus der Jackentasche und notierte sich: „Diese Stadt hat kein Rattenproblem, sie hat ein Hipsterproblem“ (Und ja, sie wusste, dass Hipster diese Notizbücher benutzten, doch sie hatte sie schon gebraucht, bevor sie cool waren). Ja, diesen Witz würde sie unbedingt das nächste Mal einbauen müssen, wenn sie wieder auf der Bühne stand und sich über den Lokalkolorit lustig machen würde. Mit dem Anflug eines Grinsens (und ja, von allem Menschen auf der Welt fand sie wohl ihre Witze am lustigsten), steckte sie das Notizbuch wieder weg und fragte: „Meinst du, du bist wieder fit, bis wir aufmachen?“
„Ich denke schon“, entgegnete Donnie etwas einsilbiger als sonst. Auch wenn sie noch immer etwas wütend auf ihn war, so hatte er bei der Geschichte doch eher sein Fett wegbekommen als sie, und wenn sie ein wirkliches Problem mit seinen derben Scherzen hätte, hätte sie ihn längst gefeuert. „Okay“, entgegnete sie und schob ihren Stuhl zurück. „Dann machen wir uns mal bereit für den großen Ansturm.“
Wie jeden Freitagabend war das Kabarett bis auf dem letzten Platz besetzt. Jedoch standen diesmal nicht zusätzlich noch viele Leute dicht gedrängt beisammen und so konnte sie sich den leicht besorgten Blick auf das Schild der Stadtverwaltung, auf dem Stand wie viele Leute sich in dem Lokal aufhalten durften, ausnahmsweise sparen. Der Grund dafür war offensichtlich: Wie jedes Jahr gab es auch diesen Februar diesen kitschigen Tag, der der lediglich deswegen gefeiert wurde, weil er der Geschenkkartenindustrie und den Blumenhändlern Millionenumsätze bescherte. Doch natürlich bot auch ihr Kabarett etwas zu diesem Anlass an, schließlich konnte man es sich nicht leisten, auch nur ein Special zu versäumen. Doch im Gegensatz zu den meisten Lokalen versuchte sie die Singles anzulocken, denn wie sie aus eigener Erfahrung wussten, wurden Paare über die Jahre faul und verbrachten den Abend sowieso vor dem Fernseher. Und so hoffte die frisch getrennte Jess auf einen Abend voller Heiterkeit, fürchtete jedoch, dass die meisten Alleinstehenden, die alleine auf der Bühne stehen würden, sich stattdessen jammernd darüber ausließen, dass sie noch niemanden gefunden hatten. Und während gerade der erste Comedian, von dem sie übrigens wusste, dass er nicht besonders komisch war, die Bühne betrat, schaute sie aus dem kleinen Kellerfenster auf den regennassen Straßenbelag und fragte sich wie schlimm diese Nacht wohl werden mochte.
„Ach“, machte Jess ein Geräusch der Erschöpfung und konnte sich, nachdem der endlos scheinende Abend endlich überstanden war, mit der Eleganz eines fallschirmspringenden Seehundes auf einen Sessel plumpsen lassen. Donnie, der gerade den letzten Betrunkenen vor die Tür gesetzt und ihm ein Taxi herangewinkt hatte, trat in den Raum und schien nicht minder müde zu sein. „Sag mal“, begann er, während er sich an die Wand lehnte, „liegt das an mir oder waren die Leute heute wirklich nicht witzig?“
Jess schüttelte den Kopf. „Nein, sie waren tatsächlich nicht komisch. Aber dieser Tag bringt auch das Schlimmste in an den Menschen zum Vorschein.“
„Wie meinst du das?“, erkundigte er sich. „Ich mag den Valentinstag irgendwie, darum habe ich meiner Frau auch eine Schachtel Pralinen gekauft.“
„Du benimmst dich hier auch als einziger nicht wie kompletter Aufschneider“, wandte Jess ein, bevor sie erklärte: „Naja, die Verliebten sind überkitschig und nerven, die Singles jammern wie nichts und nerven genauso. Einfach einer der Tage, an denen man sich wünscht, wieder ein Kind zu sein.“
„Kinder nerven auch“, entgegnete Donnie. „Glaub mir, ich habe selber drei, ich weiß, wovon ich rede.“
Jess brach in Gelächter aus und hätte beinahe ihr Wasser ausgekippt, weil sie sich nicht mehr halten konnte. Und wie immer, wenn sie selbst nicht genau verstand, wieso sie etwas witzig fand, fragte sie sich, wie viel Humor sie wirklich hatte.