Die Steigung war sanft genug, dass selbst das Rentnerehepaar vor ihnen keine große Mühe damit hatte, dicht auf den Fersen ihrer beiden Enkelkinder zu bleiben. Diese tobten auf dem Weg nach oben und hielten nur hier und da inne, um Seifenblasen in die glasklare Abendluft zu pusten. Es wehte kein Wind und die Sonne kroch gemächlich dem Horizont entgegen. Noch glühte der Himmel nicht in Orange und der Felsen reflektiere in fahlem Braun, auf dem das grelle Grün ihrer Wanderschuhe fremdartig wirkte.
„Ach komm schon, das hast du dir immer gewünscht“, drängelte sie weiter, ohne sich nach ihm umzuwenden. Es fiel ihm nicht schwer, zu erraten, weshalb sie stur geradeausblickte. Einige hundert Meter hinter ihnen, am Fuß des Ayers Rock, standen einige Reihen mit Autos und Reisebussen, mit denen die vielen Ausflügler hierhingelangt waren – definitiv keine schöne Aussicht. Die Bälger keiften einander im Spiel an und schienen sich keinen Deut dafür zu interessieren, dass ihre kleinen Füße auf einem Naturwahrzeichen herumstapften, während die Großeltern sich über das Frühstück unterhielten.
„Darum geht es nicht“, erwiderte er und trabte ein Stück, bis er die Familie überholt und freie Sicht hatte. Sie tat es ihm gleich und kniff ihn schmunzelnd in die Seite, ehe sie sagte: „Und ich dachte immer, du wolltest etwas erleben.“
„Ja, schon“, gab er zurück und musste kurz überlegen, wie er den Satz beenden könnte, ohne sich selbst zu widersprechen. „Aber das tun wir doch, oder?“ Ohne eine Sekunde zu zögern schüttelte sie vehement den Kopf, stellte sich ihm in den Weg und packte ihn bei den Schultern.
„Du willst mir jetzt nicht ernsthaft weismachen, dass du die letzten fünfzehn Jahre davon geträumt hast?!“ Ihre Frage war keine, sondern eine unmissverständliche Feststellung des Offensichtlichen. Natürlich hatte er nicht davon geträumt, in einem Strom aus Touristen einen abgetrampelten Pfad hochzuschlendern, um dort ein paar Fotos zu schießen und dann mit dem nächsten Bus zurück ins Hotel zu fahren. Niemand, der sich nach der australischen Wildnis sehnte, suchte nach Fremdenführern, Senioren und Organgensaft in Hotellobbys, aber so war es nun einmal.
„Um das geht es gar nicht“, protestierte er schwach und sah die Enttäuschung, die sich in ihren Augen ausbreitete. Sicher würde sie ihrem Frust gleich Gehör verschaffen, immerhin war sie noch nie jemand gewesen, der beim geringsten Widerstand resignierte. Er hatte sich getäuscht, denn anstelle davon, ihn von ihrem Vorhaben überzeugen zu wollen, ließ sie ihre Hände von seinen Armen gleiten und stapfte voran.
„Wie du willst“, meinte sie leise und schenkte ihm dann ein aufmunterndes Lächeln. „Das hier ist dein Trip. Willst du später essen gehen?“ Er war sich unschlüssig, ob der Vorschlag eine versteckte Anschuldigung hätte sein sollen, ermahnte sich dann jedoch, nicht zu viel in ihre Worte zu interpretieren; wenn sie etwas sagen wollte, dann würde sie das auch tun.
„Ich habe heute früh ein Steak-Restaurant gesehen und dachte, das wäre doch etwas.“ Er hatte bislang jede Gelegenheit dazu genutzt, einheimische Spezialitäten und ungewöhnliche Fleischsorten zu probieren und hatte nun zur Abwechslung Lust auf ein simples Stück Rind.
„Klingt gut!“ trällerte sie fröhlich, beschleunigte ihren Schritt und ließ es sich nicht nehmen, jeden einzelnen der in den Fels eingelassenen Metallpoller anzustoßen, die für den Handlauf aufgestellt worden waren.
Es war alles ganz genau so, wie er es sich vorgestellt hatte, zumindest so, wie er es erwartet hatte, seitdem er die Welt nicht mehr durch die alles verzerrende Romantik der Jugend sah. Zumindest hatten sie einen relativ ruhigen Tag für ihren Streifzug zum Ayers Rock erwischt, denn obwohl das Wetter einwandfrei war, waren nur sehr wenige Menschen zu sehen. Da waren einige wenige Familien, die dem Nachwuchs einen nationalen Schatz zeigen wollten, bevor der zu alt und desinteressiert für solche Familienausflüge wird. Aber er konnte hauptsächlich junge Leute sehen, die entweder in überschaubaren Gruppen oder zu zweit gingen. Sie waren etwa in dem Alter, in dem er mit einem Rucksack und einem Leihwagen hatte durch Australien reisen wollen – immer war etwas dazwischengekommen, seien es nun die Ausbildung, der Beruf oder andere Reiseziele gewesen. Ihm war bewusst, dass diese Erklärungen bloß Ausreden gewesen waren, denn spätestens seit seine frühen Zwanziger vorbeigewesen waren, hatte die orange-rote Freiheit ihm Angst gemacht. Er wusste, dass Australien nie das sein konnte, was er sich in seinem Kinderzimmer erträumt hatte, weil er nicht mehr derselbe war. Also hatte er seine Traumreise immer weiter aufgeschoben und sich dem gewidmet, was gerade praktisch war oder gelegen kam.
„Sag mal“, begann er, neugierig darauf, ob er sich wohl selbst überlisten könnte, „glaubst du wirklich, dass es eine gute Idee ist?“ Damit gab er ihr Anlass zur Hoffnung und sie wirbelte im Gehen um ihre eigene Achse, hüpfte auf ihn zu und legte ihren Arm um ihn.
„Nein, ganz und gar nicht, aber“ flüsterte sie verschwörerisch in sein Ohr, „das ist völlig egal. Es ist das, was du dir immer gewünscht hast, also scheiß auf gute Ideen!“
„So einfach ist das auch wieder nicht“, gab er zu Bedenken. Sie waren überhaupt nicht vorbereitet und könnten dafür in Schwierigkeiten geraten. Obschon er zugeben musste, dass ihnen nicht allzu passieren würde, wenn man sie erwischt – sie waren in Australien und nicht in China oder Nordkorea.
„Klar ist es das.“ Sie beide waren so verschieden, dass sie ähnlicher nicht hätten sein können. Für beide war es selbstverständlich, dass man seinen Willen durchsetzt, wenn man etwas unbedingt tun will, nur hielten sie sich dabei an andere Gesetze.
„Okay, ich überleg’s mir“, ließ er nach einer Weile verlauten. Die beiden verstummten, als sie auf dem Plateau angekommen waren und er zückte, wie ein braver Tourist, seine Kamera, während sie noch mit offenem Mund auf die Landschaft starrte.
Sie hatten knapp zwei Stunden auf dem felsigen Boden verbracht, Fotos von der Aussicht über die Dünenlandschaft und der Gipfelplatte gemacht, sich über den endlos scheinenden Himmel unterhalten und ihr Bestes versucht, den anderen Besuchern aus dem Weg zu gehen, um die vermeintliche Einsamkeit dieses Ortes genießen zu können. Dann war ein Park Ranger auf sie zugekommen und hatte sie freundlich über die Öffnungszeiten informiert und einige einstudierte Sätze über Aussichtspunkte heruntergeleiert: „There are two special viewing areas to see the Sunset over Uluru and get more information about the area.“
„Thanks, mate“, flötete sie dem Typen entgegen, packte ihren viel zu großen Rucksack und stand auf. Wenn sie jetzt losgingen, würden sie etwas vor dem Sonnenuntergang ankommen und dabei zusehen können, wie sich die Farben des Felses vom schmutzigen Braun in sattes Rot verwandeln. Der Ranger wandte sich ab und machte sich auf den Weg zu einer kleinen Gruppe, die augenscheinlich nicht wusste, ob sie denselben Weg zurückgehen sollen.
„Zeit die Schwimmflügel abzulegen!“, verkündete sie feierlich und kickte ihn sanft in die Seite. „Komm, steh auf.“ Er tat wie ihm befohlen wurde, war sich aber noch unsicher, ob er diesen Irrsinn tatsächlich mitmachen wollte oder er den eingeschlagenen Pfosten zurück zu den Autos folgen sollte. Es gab Momente, da sah er sich gerne als großen Abenteurer, der jede Möglichkeit dazu nutzte, die Welt zu erkunden. Zurückschrecken ließ er sich dabei von kaum etwas, weder von ungewöhnlichem Essen, lästigen Insekten oder unbequemen Fortbewegungsmitteln. In Realität war er aber derjenige, der seine Winterreifen kaufte, sobald die ersten Herbstblätter fielen und Hotels buchte, bevor er am Flughafen war. Das kratzte vielleicht etwas an seinem Abenteurer Image, doch er störte sich daran nicht. Es gab einen gewissen Punkt im Leben, ab dem man zumindest ein wenig Sicherheit und Komfort genießen möchte und daran ist auch nichts Falsches.
„Also gut“, murmelte er wenig begeistert davon, die Nacht im Freien zu verbringen. Aber all die Gedanken dazu, wie sehr er sich im Laufe der Jahre verändert hatte, ließen einen Rückzieher nicht zu – er wollte sich beweisen, dass der Fünfzehnjährige mit seinen Postern vom australischen Outback, noch irgendwo in ihm schlummerte.
Hastig marschierte er ihr hinterher und blieb abrupt stehen, als sie ihre Hand hob und sich etwas duckte. Sie warteten ab und nachdem die beiden Männer vorbeispaziert waren, rannten sie einige hundert Meter, bis sie eine Versenkung erreichten, die nicht mit Wasser vom letzten Regen gefüllt war. Schwer atmend ließ sie ihren Rucksack fallen und legte sich dann auf den schuppigen Felsen, sodass man sie von weitem nicht sehen konnte. Er tat es ihr gleich und konnte fühlen, wie die Aufregung immer stärker durch seinen ganzen Körper kribbelte – sie würden es wirklich tun und hier widerrechtlich übernachten!
„Wie lange müssen wir hier liegenbleiben?“, erkundigte sie sich bei ihm.
„Woher soll ich das wissen? Du bist doch die mit dem Plan!“ Ihr Gesicht zu einem ahnungslosen Grinsen verziehend begann sie damit, in ihrem Rucksack zu wühlen.
„Ich habe keinen Plan, aber ich habe die hier“, sagte sie dann und hielt ihm ein Teelicht unter die Nase. In dem Augenblick hörte die freudige Aufregung auf wohlig zu kitzeln und ein kalter, nervöser Kloß formte sich in seiner Magengrube.
„Sag mal, spinnst du eigentlich? Die Temperatur wird bald fallen und wir haben gerade mal eine Windjacke dabei. Glaubst du echt, ein verdammtes Teelicht wird …“ Sie unterbrach ihn mit lautem Gelächter und setzte sich auf.
„Ach du“, gluckste sie, während sie ihr Gepäck zwischen die Beine stellte und nach und nach Proviant, einen verpackten Stapel Rettungsdecken, eine Gaslampe und sogar ein kleines Teleskop vor ihm aufbaute. „Es ist nicht das Ritz, aber dafür wirst du endlich deinen Uluru Sunset erleben.“
Und die Enkelkinder? Campen die mit oder wo sind die geblieben? :)
Ein schöner Text – von der Moral könnte man sich ne Scheibe abschneiden. Wir haben ja alle unerfüllte Träume, die vermutlich auch nie erfüllt werden, weil uns der Alltag immer im Griff hat …