Nein.
Eintrag Nr. 1 – 29. Mai
Liebes Tagebuch,
findest du es nicht auch albern, wenn Leute ihre Tagebucheinträge mit den Worten „Liebes Tagebuch“ beginnen? Ganz generell scheint es mir durch und durch albern, überhaupt ein Tagebuch zu führen. Natürlich kann es ganz hilfreich sein, wenn man seine aktuelle Situation rekapitulieren oder analysieren möchte. Vielleicht ist es auch ganz nützlich, um Ziele festzuhalten, wiederholt darüber zu schreiben, sodass man sie nicht aus den Augen verliert. Das Problem ist nur … Ich bin mir meiner Situation vollumfänglich bewusst und meine Ziele habe ich bisher auch ohne Kritzelei erreicht.
Eintrag Nr. 2. – 30. Mai
Liebes Tagebuch,
die Zeit, die ich damit vergeuden muss, dich mit Tinte zu füllen, könnte ich dazu nutzen, die alten Bilderrahmen im Keller mit Zeichnungen zu füllen.
Eintrag Nr. 3 – 31. Mai
Liebes Tagebuch,
heute früh hat sich die Erde so gedreht, dass die Sonne aufging. Ich habe wie üblich dreimal meine Zähne geputzt und am Abend lief nur Mist im Flimmerkasten. Vorhersehbar, alles wie gehabt.
Eintrag Nr. 4 – 1. Juni
Liebes Tagebuch,
ich mag dich nicht mehr Tagebuch nennen – dein Name sei von nun an Karl-Heinz von und zu Stumpfsinnhausen, kurz: K.!
Lieber K.,
meine Geographiekenntnisse sind beschämend. Auch nach längerem Hin und Her konnte ich nicht alle afrikanischen Hauptstädte benennen. Werde mir eine Weltkarte gegenüber der Toilette aufhängen.
Eintrag Nr. 5 – 2. Juni
Lieber K.,
Abuja, Accara, Addis Abeba, Algier, Antananarivo, Asmara, Bamako, Bangui, Banjul, Bissau, Brazzaville, Bujumbura, Conakry, Dakar, Dodoma, Dschibuti, Freetown, Gaborone, Harare, Jaunde, Kairo, Kampala, Khartum, Kigali, Kinshasa, Libreville, Lilongwe, Lomé, Luanda, Lusaka, Malabo, Maputo, Maseru, Mbabane, Mogadischu, Monrovia, Moroni, N’Djamena, Nairobi, Niamey, Nouakchott, Ouagadougou, Port Louis, Porto Novo, Praia, Pretoria, Rabat, São Tomé, Tripolis, Tunis, Victoria, Windhoek, Yamoussoukro.
Zufrieden?
Eintrag Nr. 6 – 4. Juni
Lieber K.,
ich hatte gestern etwas Besseres zu tun, als auf dir herumzuschmieren. Du kannst mir danken, K., denn nur mein heldenhafter Einsatz mit dem Feuerlöscher hat dich vor deinem wohlverdienten Schicksal, als Zunder zu enden, bewahrt. Der Tag kommt noch, K., der Tag kommt noch …
Eintrag Nr. 7 – 5. Juni
Lieber K.,
der Doc meint, ich solle mich mit dir mehr bemühen, über meine Erlebnisse, Gefühle und solchen Quatsch schreiben. Okay, von mir aus!
Ich erlebe dieses erzwungene Tagebuchschreiben auf der emotionalen Ebene als lächerliche Zeit- und Konzentrationsverschwendung.
Ja.
Eintrag Nr. 189 – 2. Februar
Liebster K.,
mein Psychiater hat wieder angerufen. Natürlich bin ich nicht rangegangen, sondern habe gewartet, bis das Telefon verstummte und sich der kalte Klumpen in meinem Magen langsam auflöste. Ich frage mich, ob er sich wohl Sorgen um mich macht, immerhin habe ich mich seit Wochen nicht bei ihm gemeldet und ich bin mir sicher, dass irgendwo in seinen Unterlagen die Wortkombination „Suizidgefahr kann nicht ausgeschlossen werden“ zu finden ist. Eigentlich ist es ja schade, wenn man nicht einmal mehr mit seinem Psychiater offen sprechen darf, ohne sich gleich solche unsinnigen Vorwürfe anhören zu müssen. Aber egal, von einem Freudianer werde ich wohl keine höhere Denkleistung erwarten können, die zweifelsohne notwendig wäre, um zu verstehen, weshalb ich Suizidgedanken einfach nur beruhigend finde.
Wenigstens du verstehst mich, K., auch wenn du nur ein austauschbares Ding aus gebundenem Faserpapier bist.
Eintrag Nr. 251 – 28. April
Liebster K.,
wusstest du schon, dass Zimmerpflanzendünger in unterschiedlichen Ausführungen hergestellt wird? Ich bevorzuge ja den ohne Magnesium, obwohl manche meinen, gerade das Magnesium täte den grünen Biestern gut. Ach was soll’s, du kennst mich ja, K., keine Pflanze lebt bei mir länger als drei Wochen. Zufälligerweise hielt bei mir auch nie eine Beziehung länger als drei Wochen. Das wird wohl eher an meiner unerträglichen Art liegen und nicht am Dünger.
Eintrag Nr. 269 – 11. Juni
Liebster K.,
ich habe soeben erfahren, dass meine Mutter verunfallt ist. Ihr Auto ist wohl von der Straße abgekommen, mehr weiß ich noch nicht. Die Ärzte meinen, sie versuchen alles Menschenmögliche. Ich habe Angst davor, alleine ins Krankenhaus zu fahren.
Eintrag Nr. 270 – 6. Juli
Liebster K.,
du hast mir gefehlt. Es tut mir leid, dass ich keine Zeit für dich hatte, doch die letzten Wochen waren, gelinde ausgedrückt, etwas turbulent. Der Doc wird sich bestimmt darüber freuen, dass ich keine Kraft mehr hatte, mir jeden Tag vorzustellen, wie es wäre, wenn ich mir einfach den Schädel wegblasen würde. Habe neulich mit ihm gesprochen, er hat sich tatsächlich Sorgen gemacht – zumindest behauptet er das, irgendwie muss der seinen Lohn ja verdienen. Von nun an wird alles wieder wie gewohnt laufen, das verspreche ich dir, lieber K., ganz bestimmt. Sie ist gestern Nacht gestorben.
Eintrag Nr. 271 – 7. Juli
Liebster K.,
ich fühle mich einsam. Egal was ich auch mache. Ob ich joggen gehe, auf der Arbeit sitze, Fernsehe, mich im Monitorkabel verheddere oder mit anderen Menschen spreche … Ich fühle mich immer einsam. Zum Glück gibt es dich, liebster K., ich würde sonst den Verstand verlieren.
Eintrag Nr. 272 – 8. Juli
Liebster K,
am Sonntag ist die Beerdigung. Ich dachte immer, so etwas würde länger dauern, doch mein Vater kann es kaum erwarten, Mama unter die Erde zu bringen. Gerne würde ich behaupten, dass das Schlimmste an der ganzen Sache ist, sie nie wieder sehen zu können. Aber um ehrlich zu sein scheint es mir unmöglich, mir das auch nur vorzustellen. Was mich im Moment wirklich ankotzt, ist die leidige Tatsache, mich beinahe jeden Tag mit meiner Familie unterhalten zu müssen. Es ist so kraftraubend, K., es raubt mir den letzten Funken Energie.
Eintrag Nr. 274 – 10. Juli
Liebster K.,
Mama Grab ist noch frisch und schon streiten sich alle um ihre Kohle. Drecksgesindel! Bin zu wütend, um zu schreiben!
Unbedingt!
Eintrag Nr. 569 – 15. Dezember
Hallo Schatz,
ich hoffe, dein Tag war angenehmer als meiner. Leonie von der Arbeit hat mal wieder stundenlang von ihrem blöden Kater geschwärmt und … Ach, lassen wir das. Ich habe mir überlegt, dass wir nach dem Abendessen den neuen Film mit diesem Typen angucken können. Wie heißt der …? Der, mit den hohen Wangenkochen und den fusseligen Haaren? Egal, ist irgendeine romantische Komödie. Ich weiß, du hältst nicht viel von diesen Filmen und du hast ja Recht, eigentlich sind alle gleich, trotzdem wär’s schön. Meinst du nicht?
Eintrag Nr. 570 – 15. Dezember
Gute Nacht, Schatz und danke für den schönen Filmabend.
Eintrag Nr. 578 – 18. Dezember
Hallo Schatz,
ich soll dich von Tina grüßen. Du weißt schon, die Tusse, die mir meine Nägel macht. Sie will dich im Übrigen unbedingt mal kennenlernen, weil ich nur Gutes von dir zu berichten habe. Aber vergiss es, Karl-Heinz, die Kuh will sich bestimmt nur an dich ranschmeißen!
Eintrag Nr. 579 – 19. Dezember
Hey Schatz,
wie lieb, dass du auf mich gewartet hast. Manchmal glaube ich, mein Chef gibt nur mir Überstunden, aber nein, Leonie war heute auch bis um halb zehn da. Du, würde es dir etwas ausmachen, wenn ich gleich ins Bett gehe? Ich bin echt kaputt.
Eintrag Nr. 589 – 20. Dezember
Hallo Schatz,
mir geht es wieder schlechter. Papa hat noch immer nicht angerufen. Ich weiß nicht, was ich falsch mache, doch es scheint ganz so, als wollten die Arschlöcher mich zu Weihnachten nicht bei sich haben! Ich vermute, die sind noch sauer wegen dem, was nach der Beerdigung von Mama passiert ist. Dabei geschieht es ihnen nur recht, bloßgestellt zu werden, dieses Pack hatte es sowieso nur auf Mamas Geld abgesehen.
Oh, Karl-Heinz, könntest du mich doch nur in den Arm nehmen.
Eintrag Nr. 590 – 20. Dezember
Schatz,
ich habe gerade das Telefon aufgehängt. Papa will mich abholen kommen, ich weiß jedoch nicht wieso. Er sagt, dass ich ein paar Tage bei ihm wohnen soll, nur solange, bis alles Weitere geregelt wurde. Was soll das heißen, Karl-Heinz? Stecken die mich wieder in diesen grauen Kasten?
Eintrag Nr. 591 – 24. Dezember
Schatz,
ich bin hier, hab keine Sorge, ich bin wieder hier und ich lasse nicht zu, dass sie dich mir wegnehmen!
Der Doc hat mit Papa gesprochen und jetzt ist wieder die Hölle los. Schon wieder die alte Leier von wegen ich hätte den Bezug zur Realität verloren. Sie wollten mich tatsächlich wieder in den grauen Kasten sperren, aber nicht mit mir! Ich konnte abhauen, als Papa den Wagen vorgefahren hat und verstecke mich vorerst bei den Baracken. Schon klar, hier ist es nicht so schön. Wenigstens lassen mich die Leute, die hier wohnen, mit ans Feuer und ich habe daran gedacht, Thermowäsche einzupacken. Es ist ja auch nicht für lange, nur bis Papa und der Doc endlich einsehen, dass ich nur mit dir glücklich sein kann, dass du mein Wunschtraum bist.
Puh, das ist ganz schön gruselig und abgefahren. Ich mags :-)
Heya
Ach, erst dachte ich: „NEIN, das wird nix.“
Irgendwann aber, überlegte ich mir: „JA, gut wenn ich schon angefangen habe, kann ich auch weitermachen.“
Dann kam der Moment, in dem das Publikations-Schicksal dieser Geschichte besiegelt wurde, als ich ganz hektisch schrie: „Oh NEIN, ich muss JA UNBEDINGT meine Kurzgeschichte fertigschreiben!“ ;)
Liebe Grüsse und, du weiss schon, grandiotastische Wünsche
Rahel