Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Hunderttausend heulende und jaulende Höllenhunde“, murmelte ich, in Anlehnung an einen bekannten Comic, doch so leise, dass nur Anna mich hören konnte. Sie hatte ein schiefes Grinsen auf den Lippen und versuchte sich ihr Amüsement nicht anmerken zu lassen, als wir in den nächsten Raum der Sammlung gingen. Das Hundertwasser-Museum war ihre Idee gewesen, und dass unsere Planung nicht optimal gewesen war, war mir spätestens da klar geworden, als ich die Tickets mit einer Hunderternote bezahlt hatte und mich dabei so hatte beherrschen müssen, kein dummes Wortspiel vom Stapel zu lassen, dass ich geglaubt hatte, mein Kopf wäre rot geworden. Und jetzt schlenderten wir durch die Ausstellung und versuchten krampfhaft nicht aufzufallen. Normalerweise wären Anna und ich überall der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit geworden, ich, weil ich die ganze Zeit dumme Sprüche aus der Bandbreite von Zitaten bis hin zu sarkastischen Kommentaren machte und sie, weil sie bei jedem davon in Gelächter ausbrach. Wir schafften es einfach nicht einen öffentlichen Ort zu besuchen ohne aufzufallen, ob wir es nun darauf anlegten oder nicht. Ich erinnerte mich an die Hundertjahrfeier der städtischen Verkehrsbetriebe, wo ich auf einer Extrafahrt Anna dazu gebracht habe, so in Gelächter auszubrechen, dass sich alle Passagiere zu uns umgedreht hatten.
Doch als ich Dreißig geworden war, habe ich mir vorgenommen damit aufzuhören, man kann doch nicht ein normales Leben führen, wenn man die ganze Zeit über kindisch blieb, und das auf einem Niveau, das mir selbst immer wieder peinlich war.
Anna war seit Ewigkeiten meine beste Freundin und wenn auch nur ein Hundertstel von dem, was wir zusammen ausgefressen hatten, das Licht der Öffentlichkeit erblicken würde, würde sich ein Großteils meines Umfeldes nur kopfschüttelnd die Schläfe massieren. Doch aus meiner Sicht hatten meine lieben Mitmenschen auch nicht unbedingt Sinn für Humor – nicht, dass ich dafür ein guter Maßstab wäre. Nein, wirklich nicht, überlegte ich, während wir weiterhin die Bilder betrachteten. Wir waren nun mal in einem Alter, in dem es sich (längst!) nicht mehr gehörte, ständig wegen dummer Sprüche loszukichern. Und so hatten wir uns entschlossen an uns zu arbeiten, als beherrschte Menschen Undercover zu gehen und den Alltag meiner Mitmenschen zu infiltrieren. Vieles wäre sicher leichter, wenn man weniger auffiel, nur ein Stückchen normaler war. Zumindest dachte ich mir das, schließlich musste ich diese These erst in der Praxis unter Beweis stellen. Doch es war so schwer, immer die Klappe zu halten, wenn ein weiterer dummer Kommentar aus mir herauswollte und die bunten Hundertwasser-Bilder verleiteten mich jedes Mal von neuem dazu, etwas Dummes sagen zu wollen. Ich kenne es nur zu gut, das etwas aus einem herausmuss, man es aber nicht sagen will. Stellt euch dieses Gefühl vor, hundertfach jeden Tag, je würde sich ein Großteils meines Umfeldes nur kopfschüttelnd die Schläfe massierende Stunde. Und seit nunmehr zwei Wochen führten wir einen Kampf darum, uns im Zaum zu halten, denn egal wo wir waren, ob bei der Arbeit, im Bus oder eben wie hier, im Museum, wir hatten es kaum je fünf Minuten geschafft, nicht lauthals loslachen zu wollen. Mir ist noch immer nicht ganz klar, wieso wir das taten, wieso wir diese verrückte Dynamik hatten, doch seit fünfzehn Jahren, damals, als wir uns kennengelernt hatten, waren wir so. Es hatte viel gebraucht, Anna zu überzeugen, dass wir uns zügeln sollten und sie war noch immer hin- und hergerissen dazwischen, über meine Theorie zu lachen und sich ernsthaft zu bemühen, mir bei der Umsetzung zu helfen. Im Moment schien sie nicht mehr amüsiert zu sein, denn sie betrachtete ein Bild wie … Nein, keine weiteren lustigen Vergleiche mehr, hör damit auf!
Als wir aus dem Museum traten, kam ich mir vor, als hätte ich einen Marathon überstanden. Sozialgeschick war noch nie meine Stärke gewesen, doch mir zusammen mit Anna einen dummen Spruch nach dem nächsten zu verkneifen, fühlte sich an, als ob ich gleich platzen würde. Ständig musste ich wachsam sein, ständig auf Zack und bereit, mich selbst zurückzuhalten. Denn nein, ich überlegte mir diese Sprüche nicht, sondern sagte sie einfach so drauflos, ohne groß zu denken. Nach Jahren der Gewöhnung, die durch Belohnung verstärkt worden war (Anna unkontrolliertes Lachen war definitiv eine Belohnung) würde es mir nun sehr schwer fallen, diese Gewohnheit abzulegen, die ich seit meiner Teenagerzeit mit mir herumtrug. Ich seufzte, schloss die Augen und genoss die Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht, als Anna mich anstupste. Als ich mich umwandte erkannte ich, dass sie im Museum einen Flyer für eine Ausstellung gefunden hatte, den sie mir nun mit einem verräterischen Grinsen hinstreckte und ich und ich wollte gar nicht wissen, was für eine seltsame Grimasse ich gerade machte. „Hör auf, mich zu provozieren, verdammt!“, dachte ich mir und es hallte in meinen Gedanken wieder, ganz so, als ob ich es laut ausgerufen hätte. Dann fiel mein Blick auf den Flyer und ich konnte die große Überschrift in absichtlich dramatischen Lettern lesen: „Hundertjähriger Krieg. Eine Ausstellung über …“
Ich räusperte mich und schluckte leer. Da war er wieder, dieser Drang, etwas zu sagen, stärker als zuvor. Es würde nicht sonderlich witzig sein, doch Anna würde sich totlachen. „Hör auf damit!“ schrie ich mich selbst mit meiner inneren Stimme an, doch es war schon zu spät, denn ich konnte mich sagen hören: „Letzte Woche die Hundertjahrfeier der Verkehrsbetreibe, diese Woche Hundertwasser und nächste Woche der Hundertjährige Krieg? Willst du etwas hundert Freizeitbeschäftigungen finden, die mit dem Wort „Hundert“ zu tun haben?“
Und als ich da stand und Anna dabei zusah, wie sie sich über etwas, das nicht einmal besonders witzig war, halb kaputtlachte, wusste ich nicht, ob ich stolz sein sollte, dass ich so lange durchgehalten hatte oder …
Ich konnte nicht weiterdenken, weil ich in ihr sinnloses Gelächter einstimmen musste, es war einfach zu ansteckend.