Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Dies ist der 3. Teil der Fortsetzungsgeschichte „Ein gefährlicher Ort“.
„Ich mag Herbstanfang, diese wundervolle Stimmung.“ Meghan seufzte zufrieden, stellte ihren Rucksack auf ein kleines Plateau, das den sonst relativ steilen Berghang unterbrach, und setzte sich mit überkreuzten Beinen hin. Chris kam ihr schwer schnaufend hinterher und machte es sich schließlich auf einem mit Grasbüscheln bewachsenen Grund bequem. „Okay, da bin ich“, keuchte der ehemalige Cop. „Nach der Affenhitze im Sommer definitiv eine Erleichterung.“
„Was stöhnst du rum? Völlig untypisch“, lachte sie und kramte gepökeltes Mammut aus ihrem Rucksack. „Du bist ein Jahr bei uns und heute höre ich dich zum ersten Mal jammern – wünschen der Herr frisches Mammutfleisch, Flan mit Vanillearoma und Champagner dazu?“
Feixend öffnete Chris seinen Rucksack und suchte nach seinem Lunch. „Ach, lass mich. Du beschwerst dich alle paar Wochen, wie sehr dir die veganen Würste fehlen und wie scheiße es ist, Fleisch zu essen.“
„Ist es auch, richtig scheiße sogar. Naja, schlussendlich sticht Überleben Prinzipien aus“, meinte Meghan schulterzuckend. Der Freund würde nie erfahren, wie sehr sich die Vegetarierin auch Jahre nach der Verbannung noch vor Fleisch ekelte. Glücklicherweise lenkte sie Chris von dem Gedanken ab, denn er wechselte das Thema: „Bist du sicher, da oben gibt es wirklich Velociraptor-Eier?“
„Ja, ich habe bislang jedes Mal welche aufgetrieben. Wenn wir genug mitnehmen, leben wir eine ganze Weile davon und kontrollieren damit gleich die Population – also sinnvoll. Wir sollten vor Einbruch der Dunkelheit zurück sein, ich möchte nichts riskieren. Aktuell ist Neumond, da sieht man kaum die Hand vor Augen.“ Mit einem schalkhaften Grinsen sagte sie: „Vor allem müssen wir zu Steve und seinem Selbstgebrauten. Wenn niemand aufpasst, artet der Abend in ein Saufgelage aus.“
Chris gluckste. „Komm schon, Meg. So bekloppt sind die anderen auch wieder nicht. Sie brauchen bloß hin und wieder eine erwachsene Ausfischtspers…“ Er stockte und verzog das Gesicht, Meghan schwieg, hörte es dann ebenfalls. Ein Brummen hallte über den Bergen, ein Brummen, das nur eines bedeuten konnte. „Flugzeug!“, stellten sie unisono fest und hielten nach einer nahenden Silhouette Ausschau. Ihre Insel wurde überflogen, wenn das Regime einen neuen Sträfling abwarf, den es in ihrer Kolonie aussetzen wollte. Das war seit letztem Herbst insgesamt sechsmal geschehen. Chris war der Einzige, der so lange überlebt hatte, drei waren den Bestien zum Opfer gefallen, ehe sie zu den anderen gestoßen waren. Die anderen hatten einfach Pech gehabt. Chris beschattete die Augen mit der Hand und zeigte gegen Westen, wo die Umrisse eines Flugzeuges sichtbar wurden. „Da! Ein Neuer?“
„Vermutlich“, murmelte Meghan und beobachtete den Schemen, der den Himmel querte. „Wenn sie den in der Nähe abwerfen, haben wir eine Chance, ihn oder sie abzugreifen, bevor …“ Sie hielt inne, als mehrere kleine Punkte sich vom Flugzeug lösten, in Richtung Boden fielen und sich die Fallschirme öffneten. „Was zum Henker?“, rief sie aus, bislang hatte das Regime stets lediglich einen, maximal zwei Sträflinge abgeworfen, jetzt zählte sie sechs Fallschirme. „So viele … Das ist neu. Was ist da los?“ Sie nahm ihren alten Kugelschreiber und notierte sich Datum und Ort in einem vergilbten Notizbuch – manchmal wunderte sie sich selbst, weshalb sie über jeden Kontakt mit der Außenwelt Buch führte. Womöglich war es ihre irrationale Hoffnung, so eines Tages einen Weg von hier weg zu finden.
„Kein Plan, vielleicht vermehren sich die Regimekritiker neuerdings wie die Velociraptoren? Wären eigentlich gute Neuigkeiten.“ Chris gestikulierte auf den Wald. „Sie werden da unten bei den Tannen landen. Wollen wir nachsehen?“
„Klar. Aber sei vorsichtig, manche davon haben Waffen und sind paranoid. Nicht auszudenken, was denen vorher über uns erzählt wurde. Leider können wir Steve und die anderen nicht erreichen, wir sind außerhalb der Funkreichweite.“
Amüsiert schnaubend erhob sich Chris, schnappte sich seinen Rucksack und die beiden gingen ohne ihre Eier los. „Ich erinnere mich, wie paranoid ich bei unserem ersten Treffen war, Meg.“
Sie hatten eine Dreiviertelstunde gebraucht, um an die vermeintliche Landestelle zu gelangen. Meghan bat ihrem Gefährten darum, still zu sein. Sie zog den Revolver, er hielt seine Neun-Millimeter-Pistole bereits in der Rechten – für den Fall der Fälle sollte man jederzeit gewappnet sein, trotzdem war es immer vorzuziehen, Konflikte zu vermeiden. Je mehr Überlebende sie in ihre Gruppe aufnehmen konnten, desto besser. Langsam arbeiteten sie sich durchs Unterholz vor, Meghan suchte nach Spuren der Gelandeten. Wie aufs Stichwort entdeckte sie einen Fallschirm, der in den Ästen hing und erschauderte: „Da stimmt etwas nicht“, zischte sie zu Chris. „Unsere Fallschirme waren viel billiger als das Ding, das sieht fast schon …“, sie schluckte, „… militärisch aus.“
„M-hm“, knurrte Chris, der ebenso beunruhigt wirkte und zusammenfuhr, als in der Nähe eine Salve Maschinengewehrfeuer ertönte. „Shit, los, ins Gebüsch!“
Meghan folgte ihm in die Deckung und die beiden lauschten angestrengt. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte, kein Sträfling bekäme vom Regime ein Maschinengewehr, soviel war klar. Das waren Soldaten, Paramilitärs oder sonst eine gut ausgerüstete Gruppe. Was wollten die?
Ehe sich Meghan unzählige Horrorszenarien ausmalen konnte, ertönten Stiefeltritte auf dem Waldboden und ein Mann in militärischer Montur, der ein Gewehr hielt, blieb wenige Meter vor ihnen stehen und griff zum Funkgerät an seinem Gürtel. „Delta-Alpha an Delta-Bravo: War das Feindkontakt?“
Nach einer Sekunde knackte das Gerät: „Negativ, Alpha. Säbelzahntiger. Bislang keine Daten zu Überlebenden, wir sondieren weiter.“
„Befehle sind unverändert. Minimaler Funkkontakt. Einwohner idealerweise vor Eliminierung verhören. Camp lokalisieren und vernichten.“
Meghan drehte sich zu Chris und die beiden starrten sich entsetzt an. Das Regime hatte tatsächlich Soldaten entsandt, um ihnen der Garaus zu machen. Meghan hob den Revolver, legte auf den Kopf des Militärs an und zögerte – sie mussten etwas tun, und das schnell. Allerdings würde sie mit einem Schuss die anderen alarmieren. Fragend sah sie zu Chris, der nickte und ebenfalls zielte. Es war keine perfekte, aber die beste Lösung. Sie drückte entschlossen ab. Sobald der Getroffene tot umgefallen war, hasteten sie los, ihnen blieb nicht viel Zeit. „Ich nehme den Funk, du das Gewehr“, befahl sie und zerrte das Funkgerät vom Gürtel der Leiche. „Kugelsichere Weste“, ergänzte Chris, schulterte das Gewehr und zog dem Toten die Weste aus. Meghan widmete sich derweil seinen Rucksack und klönte: „Ah, zu schwer!“
„Trag du die Weste, ich den Rucksack. Wir verstecken den Toten im Dickicht und verschwinden, bevor die anderen auftauchen.“
Meghan ergriff einen Arm der Leiche, Chris den anderen und mit vereinten Kräften schleppten sie so tief ins Unterholz, wie sie konnten. Schwer atmend wollte Meghan von Chris, der in solchen Dingen besser bewandert war als sie, wissen: „Sollten wir versuchen, Funkkontakt zu Steve zu bekommen? Die anderen warnen?“
„Nein, die hören sicher unseren Funk ab“, wandte der ehemalige Polizist ein. „Wir machen einen Bogen um sie, sonst locken wir sie zum Gefängnis. Am besten erst schräg den Berg hoch, dann runter und durch den Wald, zurück über die Nordostroute.“
„Gut, gehen wir.“ Entschlossen nahm Meghan die schusssichere Weste und marschierte mit ihrem Kameraden los. Innerlich war ihr ganz anders zumute. Fünf hochausgerüstete Militärs waren hinter ihnen her – sie waren zwölf Überlebende, die keine Ahnung hatten, weshalb sie gejagt wurden, mit vergleichsweise schlechten Waffen. Zwei ihrer Gruppe waren schlecht zu Fuß. Ihre Zuversicht, den Winter zu erleben, schwand, dennoch schwor sie sich, kämpfend unterzugehen.