Seit Atem geriet außer Kontrolle. Japsend, um Luft ringend brachte sich Elias unter einem umgefallenen Baumstamm in Sicherheit, die marode Rinde roch nach Pilzen und verrottendem Moos. Nicht allein die panische Hatz durchs Dickicht setzte ihm zu, obschon er weiter und schneller gerannt war als jemals zuvor, vielmehr war es der schiere Terror, den er bezeugt hatte. Die Klänge des Waldes drangen gedämpft durch das rhythmisch hämmernde Rauschen in seinen Ohren. Mit angezogenen Beinen kauerte er in seinem Schlupfloch, wartete ab, dass sein Herz zur Ruhe kam. Angespannt lauschte er, erschrak sich ab jedem Geräusch und vermutete dahinter die Bestie, die ihm hinterherstellte.
Es gab unzählige Legenden darüber, einige angeberische Jäger im Dorf behaupteten, eines dieser Tiere in den Hinterhalt gelockt und gefangen zu haben. Elias hatte diese Geschichten für Aberglaube gehalten, ein derartiges Vieh ließe sich mit keiner List der Welt gefangen nehmen. Zitternd legte er seine Arme um die Knie, schaukelte kaum merkbar vor und zurück. So eine Gestalt hätte er sich nicht einmal in seinen schlimmsten Alpträumen ausmalen können. Ein geiferndes Mischwesen, flink wie ein Reh, kräftig und angriffslustig wie ein Wolf mit Eulenschwingen an den Schulterblättern, mit denen es lautlos durch den Himmel segelte. Es hatte einen gehörten Nagetierkopf, Reihen aus nadelartigen Reißzähnen, die Haut zerreißen und Knochen zermalmen, als wären sie weichgekocht. Ja, der Wolpertinger war eine Kreatur, die direkt aus der Hölle emporgestiegen sein musste.
Elias’ ganzer Körper verkrampfte sich beim Gedanken, in die Fänge dieses übermächtigen, gar übernatürlichen Tieres zu geraten. Der Vollmond leuchtete blass gegenüber der Spätnachmittagssonne und die Temperaturen zehrten an seinem Durchhaltewillen. Es war Julians Idee gewesen, diese Route zu wählen, Elias wäre der Umweg entlang der sich trennenden Flussläufe lieber gewesen. Minutenlang geschah kaum etwas, lediglich ein laues Lüftchen wehte, ab und an schrie ein Rabe auf, störte die trügerische Stille im Wald. Trotzdem wagte er es nicht, sein Versteck zu verlassen, zu groß war seine Angst vor dem Ding, das ihn über etliche Kilometer verfolgt hatte. Wahrscheinlich war seine gelungene Flucht Julian zu verdanken, der Nomade war so heldenhaft wie träge und anscheinend genauso unverdaulich. Der junge Krieger lachte ein bitteres Lachen, trauerte um seinen ältesten Freund, der nun im Land der Regenbogen wohnte. Der schwarze Galgenvogel flog auf, umkreiste ihn und überdeckte mit seinem Krähen beinahe das Rascheln im Gebüsch.
Instinktiv presste Elias seine Handflächen gegen den Mund, verharrte regungslos unter dem morschen Holz. Es kam näher, Schritt für Schritt. Überschattet von einer dunklen Vorahnung, nein, der Gewissheit seinem Untergang bevorzustehen, schloss Elias die Augen, als es im Strauch neben ihm knisterte. Er wusste, sein Leben fände in dieser Nacht ein Ende.
„Elias. Eli, wo steckst du?“, hörte er seinen Kameraden zischen. Er unterdrückte einen Jubelschrei, lugte hervor und tatsächlich entdeckte er in einigen Metern Entfernung Julian. Dieser war hinter einem Felsbrocken in Deckung gegangen und sah sich um. Er hatte überlebt! „Elias.“
„Juli“, flüsterte er, schmunzelte und winkte dem anderen erfreut zu. „Juli, du hast es geschafft! Ich da… ich dachte scho… schon …“, stotterte er, als er vorsichtig aus seinem Unterschlupf kroch.
„Das ich tot bin?“ Der Nomade begrüßte ihn mit einem Rückenklopfer und rieb sich jovial grinsend über die Nase. „Näh, so leicht sterbe ich nicht.“
„Gut. Hoffen wir, es bleibt dabei.“ Die Lage hatte sich innert Sekunden fühlbar entspannt, ohne sich abzusprechen waren sich beide einig, dem Ungetüm entkommen zu sein. Zumindest vorerst. „Und jetzt?“
„Jetzt marschieren wir weiter.“ Julian streckte sich und deutete gegen Westen. „Wir sollten uns beeilen, der Wolpertinger hat uns viel Zeit gekostet.“
„Du willst weiterhin dorthin?“, fragte Elias und klopfte Erde von seinen Hosenbeinen.
„Natürlich, das Volk der Mirabilis ist unsere einzige Chance.“ Damit ging Julian schnurstracks auf die Böschung zu, unter der ein Rinnsal gluckerte. „Daran hat sich nichts geändert.“
„Nein“, widersprach er dem Nomaden, dessen Wanderlust sie bereits unzählige Male in Schwierigkeiten gebracht hatte. „Nein, ich habe keine Lust ins Moor zu gehen. Ich bin ein Krieger, kein Rumlatscher wie du.“
„Toller Krieger bist du“, kicherte Julian und zeigte mit dem Finger auf den umgekippten Baum unter dem Elias bis eben gehockt war. „Eher ein Zauberer, der sich selbst verschwinden lässt.“
„Halt’s Maul, Julian!“, blaffte er, ehe er in die entgegengesetzte Richtung davonstakste und keifte: „Ich bemühe mich hier um Realismus.“
„Um was?“ Julian hielt inne, runzelte die Stirn und trabte seinem Freund hinterher. „Was laberst du für Blödsinn?“
„Wir sind keine Kleinkinder.“ Er blieb stehen, stemmte die Hände gegen die Hüften und fixierte den anderen mit ernster Miene. „Wenn man von einem gruseligen Monster gejagt wird, hat man wenigstens kurz Angst. Das gilt auch für so starke Krieger wie mich. Sonst ist das total unglaubwürdig, Julian.“
„Na und?“ Schulterzuckend starrte der Angesprochene Elias an, bevor er meinte: „Was musst du immer alles so ernstnehmen? Seit dem Vorfall mit dem Kaffeebecher der blauen Magierin machst du dich wegen jeder Kleinigkeit verrückt.“
„Du nennst mich verrückt?!“, empörte er sich und wollte gerade dazu ansetzen, seinem Gefährten ordentlich die Leviten zu lesen, da klingelte sein Handy. „Mist.“
„Oh-oh“, tönte Julian und verzog das Gesicht. „Ist es die blaue Magierin?“
„M-hm“, brummte er und nahm den Anruf entgegen: „Hallo. Ja, ich bin noch mit Juli im Wald spielen. Hm, ja, klar. M-hm, ich sag’s ihm.“ Das Telefon an seine Brust drückend wandte er sich an Julian: „Du sollst mit zu mir kommen, deine Mama arbeitet länger und meine hat Kekse und Schneckennudeln für uns gemacht.“