Dies ist der 6. Teil der Fortsetzungsgeschichte „Wissen ist Macht“.
„Im Wasser hört dich niemand schreien“, beendete ich zu dramatisch das Schauermärchen, das ich frei aus meinem Kopf erzählte und wandte mich dem Panoramafenster zu. Ohne die Außenbeleuchtung des Anwesens konnte man jedoch lediglich das eigene Spiegelbild erkennen, dafür war das Gebäude hier im Marianengraben schlicht und ergreifend zu weit unter dem Meeresspiegel. Mein schwarzer Lidschatten wirkte verwischt, wahrscheinlich hatte ich mir irgendwann in die Augen gefasst – es war ein langer Tag gewesen, wenn man denn der ewigen Dunkelheit an der tiefsten Stelle des Meeres etwas wie Tageszeiten zugestehen mochte.
Ich wusste wie besonders es war, in diesem Gebäude zu sein, an einem Ort, der bis vor einiger Zeit von keinem Menschen betreten werden konnte, da sie noch nicht die Technologie hatten, um den Druckunterscheid zur Erdoberfläche wohlbehalten zu überstehen. Bei dem kleinen Wörtchen „wir“ fiel mir der andere Fakt ein, der dieses Treffen zu etwas Außergewöhnlichem machte: Acht Leute, die die das Ziel verfolgten, die Weltordnung zu ändern. Nun ja, eigentlich sieben plus Charlene, der ich eben das Schauermärchen aus unserer Kindheit erzählt hatte und die nun zufrieden auf der Couch der geheimen Basis döste. Wenn die Leute vom Widerstand zuschlagen und mich dabeihaben wollen, dann nur, wenn Charlene außer Gefahr war – das war meine Bedingung gewesen. Sie hatten sehr zu meiner Überraschung ohne zu Zögern zugestimmt und das, obwohl diese Gruppe nicht ein Häufchen Idealisten war, die von den großen Gesten träumten, sondern eine militärisch straff geführte Organisation. Die Entschlossenheit dieser Leute ist unglaublich, gibt mir eine nie zuvor dagewesene Sicherheit, was mich zugleich skeptisch macht – immerhin kommt es nicht bloß darauf an, wie stur man ist, sondern wie klug man handelt. Das ist kein Sprint sondern ein Marathon, bei dem jede Etappe wortwörtlich tödlicher ist als die vorherige. Aber dieser Widerstand hat etwas, an dem es unserem Häufchen an Idealisten gefehlt hatte: Ein riesiges Netzwerk, tausende Unterstützer und eine Struktur, in der jeder seine Aufgaben kannte. Die Leute hier waren die Anführer, die Köpfe der Hydra, wenn man so wollte.
Eine schwere Hand klopfte mir auf die Schulter, ich fuhr zusammen, drehte mich um. Der Hüne, der sich „Hammer“ nannte und im bürgerlichen Leben Frederique hieß, stand hinter mir und grinste mich breit an. Er war ein hohes Tier im Militär, vermutlich war er deswegen bis an die Spitze des Widerstands aufgestiegen. „Ada“, begann er und strich sich über den Schnauzbart, „bist du noch immer bereit?“
„Ja.“ Sturheit, eine falsche Bestimmtheit in meiner Stimme. Ich bin ein unsicherer Mensch, ein Fremdkörper unter diesen Haudegen – was verdammt nochmal mache ich hier?! „Wenn man etwas anfängt, bringt man es auch zu Ende.“
„Gut“, meinte er zufrieden. „Wenn du keine Angst hättest, würde ich mir Sorgen machen. Jeder vernünftige Mensch hat Angst am Vorabend der Revolution.“
„Woher weißt du, dass ich …?“ Rasch unterbrach ich mich. Ada, du bist eine Idiotin, woher wohl, rügte ich mich gedanklich, du warst noch nie gut darin, deine Gefühle zu verbergen. Frederique gluckste herzhaft und gab mir trotz meiner unvollständigen Frage eine Antwort. „Siehst du Marten?“ Er deutete auf den hageren Kerl mit dem scharfen Verstand, seinen Protegé, von dem der Großteil unseres Schlachtplans stammte. „Er liest Shakespeare auf dem E-Reader seines Cell-Coms. Er blättert viel langsamer als sonst, er ist verdammt nervös, wir alle sind es. Morgen beginnen wir damit, die Welt zu verändern, Ada. Viele von uns werden dabei ins Gras beißen. Es gibt kein Zurück mehr, wir sind bereit, weil wir uns dazu entschlossen haben.“
Ich nickte, Frederique hatte wohl Recht. Er war in den Monaten, seit ich mich mit diesen Leuten eingelassen hatte für mich zu sowas wie einer Vaterfigur, einem guten Freund, geworden. Deswegen fiel es mir wesentlich leichter, das auszusprechen, was mir seit einiger Zeit durch den Kopf ging: „Warum bin ich eigentlich hier? Klar, ich habe eine gute Position innerhalb der Regierung, kann euch Informationen besorgen. Aber ich bin vermutlich nicht eure einzige Wahl, trotzdem stehe ich vor dir, in eurer geheimen Basis im Marianengraben. Wieso?“
Mit einem Schulterzucken lächelte mich Frederique an. „Wir haben dich lange beobachtet, genauso wie andere Anwärter. Nun ja, du bist die, der ich am ehesten vertrauen kann, so simpel ist das.“ Schmeichelhaft. Auch wenn diese Leute meine Freunde geworden sind, so konnte ich mein Bauchgefühl, dass da etwas im Busch steckte, nicht leugnen. Sie gingen äußerst taktisch vor, wie ein gut geöltes Getriebe, nur … In einem solchen Getriebe wäre ich, die zugegebenermaßen unfähige Ada sicher nicht hier, sondern höchstens eine Informantin, die man nicht in den inneren Kern ließe. Ich hatte einfach zu viel Ballast, zu viele Schwächen, als dass man diese Entscheidung gerechtfertigt werden könnte.
Frederique riss sich einige Blätter von der Rolle Klopapier ab, die wir als Taschentücher benutzten und schnäuzte sich so lautstark, dass man meinen konnte, seine Nebenhöhlen explodierten. Sogar der ruhige Marten tippte sein elektronischen Buchzeichen an, legte das Com mit dem englischen Barden stirnrunzelnd beiseite, bevor er ausrief: „Bläst du zum Angriff, oder was soll der Radau, Mann?“
„Sorry, Schnupfen“, gab der hochgewachsene Hammer beschämt zur Antwort und fügte dann hinzu: „Ich mach mir besser einen Tee, man kann die Diktatoren ja nicht gut wegnießen.“
Marten erhob sich und folgte ihm in die Küche. „Da bin ich dabei, auch wenn es nur das scheußliche Beutel-Zeug gibt.“
Ich lehnte mich an die Wand neben der Küchentür, die eben mit einem Zischen zuglitt. Klar, wir hatten die Ressourcen, die Infrastruktur und den Willen, waren quasi eine kleine Armee, dennoch konnte ich das Kribbeln im flauen Magen nicht unterdrücken. Mein Blick wanderte durch den Raum und blieb an der mittlerweile eingeschlafenen Charlene hängen. Ich machte das für sie, für meine kleine Schwester, die ich nicht hatte beschützen können, der ich eine bessere Welt geben wollte. Zumindest sagte ich mir das ständig, immer dann, wenn ich die Zweifel zu beruhigen suchte, die an mir nagten, mich Nacht für Nacht wach hielten.
„Willst du das wirklich?“, vernahm ich hinter mir eine unklare Stimme. Die Küchentür war nicht ganz geschlossen, ein kleiner Spalt blieb, weil die Gummidichtung fehlte. Gerade als ich mich entschloss, mich zu Charlene aufs Sofa zu setzen, da ich Lauschen nicht angebracht fand, hörte ich meinen Namen und warf all meine Vorsätze über Bord. „Ada ist dem nicht gewachsen.“ Das war Marten, kratzig, leicht lispelnd.
Das tiefe Brummen meines Freundes, des ruhmreichen Hammers, setzte der Kritik sogleich ein Ende. „Sie ist vielleicht etwas verloren und keine geborene Anführerin, aber du kennst ja meine Pläne für sie. Wir brauchen Ada, mehr als wir auf die meisten unserer Alliierten angewiesen sind. Ohne sie können wir die Sache genauso gut nochmal einen neuen Plan aufsetzen.“ Bitte was? Wieso sollte ich derart wichtig sein? Unglaube, gepaart mit der Frage, in was ich da geraten war.
„Hättest du ihr das nicht bei irgendeiner Gelegenheit sagen sollen?“, murrte Marten. Frederique verneinte überzeugt. „Wir können es uns nicht leisten, dass sie ablehnt. Nach der Revolution wird sie ohnehin zustimmen müssen, sie ist vernünftig, sie wird meine Argumente sehen.“
So viel zu Thema Vertrauen. Ich seufzte und lauschte weiter, doch die beiden Verschwörer wechselten das Thema, unterhielten sich tatsächlich über ihren scheiß Tee! Auf was hast du dich da wieder eingelassen, Mädchen? Der Boden, auf dem ich glaubte Halt gefunden zu haben, drohte mir zu entgleiten und die Zeit lief mir davon – was soll ich tun?