Dem Wirt hinter der Theke kam das Paar, welches nun schon seit geraumer Zeit am Tresen saß, seltsam vor. Er schätzte sie auf Anfang 60. Beide hatten leicht graue Haare und einige Falten des Lebens im Gesicht. Eine Bar, seine Bar, war ein Ort des Austausches, der Kommunikation. Doch der Mann und die Frau schwiegen sich seit drei Runden Bier an. Zu jedem Bier tranken sie zusätzlich einen Underberg. Widerliches Zeug, dachte der Wirt. Aber er lebte vom Verkauf der Getränke, nicht von seinem persönlichen Geschmack. Und er lebte seit 30 Jahren sehr gut von den Einnahmen, die er mit der kleinen Kneipe im Hintertaunus erzielte. Während er scheinbar Gläser polierte, beobachtete er das Paar, welches er noch nie zuvor gesehen hatte, aus den Augenwinkeln. Der Mann verfolgte mit gelangweilter Miene auf dem Fernseher, der ganz hinten links in der kleinen Bar hing, ein Fußballspiel der EURO 2016. Der Wirt hatte den Ton abgestellt, denn wen interessierte schon England gegen Island? Ab und an stopfte er sich eine Handvoll Erdnüsse in den Mund. Er kaute sie geräuschvoll. Der Wirt hatte die kleine Schale schon dreimal nachgefüllt. Die Frau blickte in ihr Bierglas. Gelangweilt lehnte sie an der Bartheke. Lediglich wenn die Gläser leer waren und sie gefragt wurden, ob es noch etwas sein darf, sahen sie sich an. Dann nickten sie sich kurz zu, der Mann deutete auf die Gläser und die kleinen Underbergflaschen. Er machte dem Wirt eine Geste, nachschenken. Als dieser gerade die vierte Runde, immerhin innerhalb von einer Stunde, serviert hatte, haute die Frau mit ihrer rechten Hand auf den Tisch. Sie rief mit lauter Stimme: „Nein, Georg, das kann nicht der Beginn sein.“ Daraufhin begann sie, hemmungslos zu schluchzen und der Wirt sah deutlich Tränen, die ihr über die Wange liefen. Ihr Mann wandte den Kopf in ihre Richtung und sah sie an. Er sagte kein Wort, zuckte nur mit den Schultern. Sie sprang vom Barhocker auf und lief in Richtung Toiletten. Der Wirt, den dieser Gefühlsausbruch sehr überrascht hatte, tat so, als ob er nichts mitbekommen hätte und polierte weiter die Gläser. Als er die erneut leere Schüssel für Snacks registrierte, öffnete er seinen kleinen Vorratsschrank. Er kramte eine Tüte Chips heraus und füllte auf. Fragend sah der Mann ihn an. Der Wirt entschuldigte sich: „Sorry, die Erdnüsse sind alle, ich habe nur noch Chips, aber die sind mit Muskatnuss gewürzt.“ Mehr oder weniger gleichgültig stopfte der Gast nun diese in seinen Mund. Vielleicht schmeckt der gar nichts mehr, mutmaßte der Wirt. Kurze Zeit später kehrte die Frau an den Tresen zurück. Man sah ihr im Gesicht an, sie hatte geweint. Die Frau lehnte sich nicht wieder unbeteiligt an die Bartheke. Stattdessen zupfte sie ihren Mann am Oberarm und schrie: „Erinnerst du dich noch an unser Gespräch an Silvester zur Jahrtausendwende?“ Ihre hohe und schrille Stimme drang durch die ganze Bar. Überrascht blickte der Mann seine Frau an. Der Alkohol schien erste Wirkung zu zeigen, denn der Ausdruck seiner Augen war glasig. Er kratzte er sich am Kopf. Schleppend meinte er: „Das war 1999. Da waren wir zu Hause. Ich glaube, es gab Fondue, danach haben wir ferngesehen. Was sollen wir denn da besprochen haben?“ Entnervt stöhnte die Frau auf und schlug sich selbst mit der Hand an den Kopf. „Die Jahrtausendwende, lieber Schatz“, aus ihrer Stimme klang Sarkasmus pur, „fand vom 31.12.2000 auf den 01.01.2001 statt. Das weiß jeder meiner früheren Schüler.“ Wütend leerte sie die kleine Underbergflasche mit einem Zug und spülte mit einem großen Schluck Bier nach. Der Mann, der den nun sehr neugierigen Blick des Wirtes bemerkte, sagte zu diesem: „Entschuldigung, meine Frau ist Lehrerin.“ „Ich war Lehrerin“, brüllte die Frau und fuhr fort: „Genau bis heute Mittag um 12 Uhr, bevor ich mich in den Vorruhestand verabschieden ließ!“ Dem Mann schien die Situation peinlich zu sein, denn er erklärte nun dem Wirt und auch dem Rest der Kneipe: „Und ich war Finanzbeamter, auch bis heute Mittag um 12 Uhr, ich bin ebenfalls nun im Vorruhestand.“ Einige Gäste klatschten. Die Frau, die den Rest des Bierglases austrank, meinte: „Zu klatschen gibt es da nichts.“ Sie zischte ihrem Mann zu: „Am 31.12.2000, am Silvestertag, lagen wir mit einem Kreuzfahrtschiff in Phuket.“ Der Mann wurde rot. Die Frau zog ihren lilafarbenen Pullover aus, darunter trug sie nur ein kurzärmeliges T-Shirt. „Hier“, schrie sie, „schaut alle her. Der Wirt und der Rest der Kneipenbelegschaft erstarrten. Auf ihrem rechten Oberarm war das Datum von heute als ein hübsches, kunstvoll gestaltetes Tattoo auf der Haut verewigt: 27.06.2016. Da nun auch der Mann sein Bierglas in einem Zug leerte, schenkte der Wirt eilig nach, dieses Mal, ohne zu fragen. „An diesem Abend, als wir aus Phuket ausliefen, an der Reling stehend, haben wir uns geschworen, genau heute mit 63 Jahren und zu diesem Datum unseren Job an den Nagel zu hängen.“ „Haben wir auch gemacht“, befand ihr Mann, dem die Situation nach und nach peinlicher wurde. „Ja“, kreischte sie, „und wofür? Damit wir uns anschweigend in einer Kneipe sitzen?“ „Du wolltest ausgehen“, verteidigte er sich mit müder Stimme. Sie lachte auf, aber in ihrem Lachen lag eine gewisse Bitterkeit. „Ja, das wollte ich“, gab sie zu, „und d-i-r ist lediglich diese Kneipe eingefallen“, warf sie ihm vor. „Es ist schön, sie heute als Gäste zu haben“, versuchte der Wirt zu helfen. Ungefragt stellte er noch zwei Fläschchen Underberg auf die Theke. Der Mann winkte ab, doch die Frau trank beide Flaschen nacheinander aus. Dann wischte sie sich über den Mund. „Du sprichst seit Jahren eigentlich nicht mehr mit mir. Mit dir soll ich nun meinen Lebensabend verbringen? Nee, mein Lieber, ab Morgen bin ich weg, ich brauche dringend ein Update.“ Sie nahm ihre Jacke und verließ die Bar. Sichtlich betroffen sah ihr Mann ihr hinterher. Als er sich wieder dem Tresen zuwandte und erneut dem Blick des Wirtes begegnete, fragte er: „Was meint sie denn?“ Da mischte sich ein recht junger Mann ein, der bisher schweigend vor einem Spielautomaten in der Ecke gesessen hatte: „Du, ey, sie ist frustriert, buch ‘ne Kreuzfahrt oder sonst was Schönes, aber rede mit ihr.“ „Ich geh mal“, murmelte der Mann, warf dem Wirt einen 50-Euro-Schein auf den Tisch und verließ die Bar.
Als der Wirt die Bar gegen Ein Uhr schloss und nach Hause kam, war seine Frau noch wach. „Schatz, da bist du ja“, rief sie erfreut. Er strahlte, dann holte er zwei Gläser Wein aus der Küche, sie stießen an. „Du, ich habe mal gerechnet“, begann er. Sie sah ihn überrascht an. „Wir sind jetzt beide 60 Jahre alt, unsere Altersversorgung ist gedeckt. Ich habe mich entschlossen, die Bar zum Jahresende zu verkaufen. Wir ziehen endlich in den Süden, vielleicht nach Gran Canaria, davon hast du doch lange geträumt.“ Nun blickte sie noch erstaunter und sagte: „Jetzt schon? Aber, du wolltest immer arbeiten, bis du 65 Jahre alt bist.“ Er küsste sie auf die Stirn, nahm einen großen Schluck Wein und meinte: „Ich möchte ein Update unseres Lebens mit dir.“