Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Als Vampir hat man es nicht immer leicht. Davon hört oder liest man nichts, nein. Entweder werden wir als blutrünstige Monster dargestellt, vielleicht als kitschige Romantik-Fantasie. Ob ein Vampir seine Steuererklärung ausfüllt, aufs Klo geht und Pakete auf die Post bringt, ja, das will keiner wissen. Ehrlich, in einer Gesellschaft, in der man uns bloß auf Stereotypen reduziert, läuft einiges schief.“
Ich lege den Stift beiseite, denn ich kann schlecht ewig hier im Krankenhaus im Wartebereich herumlungern, ansonsten erwecke ich Verdacht. Mein Tagebuch muss sich daher gedulden und ich widme mich meinem aktuellen Problem: Blutkonserven zu klauen ohne dass ein Arzt auf die Idee kommt, meine Temperatur zu messen (die, da ich untot bin, selbstverständlich identisch mit der Raumtemperatur ist, was zu einem kleinen Aufstand führen könnte), weil ich angeblich bleich und krank aussehe.
Ein bebrillter, fusseliger Mann mit einem Veilchen mustert mich eingehend, was mir kalte Schauer den Rücken jagt. Gebückt wie ein Gibbon sitzt er mir gegenüber auf der Bank, kritzelt ab und an was in sein Notizbuch, um dann wieder über den Rand zu linsen und mich vermeintlich-heimlich zu beobachten. Während ich mir zu überlegen beginne, ob ich mir statt der Blutkonserven doch eher diese verstörende Nervensäge einverleiben soll, steht er auf, marschiert zu mir herüber und lässt sich auf die Bank neben mir fallen. „Abend.“
Mich innerlich verfluchend (obwohl, verflucht bin ich ja bereits), erwidere ich den Gruß. Meine letzte Hoffnung auf Grabesruhe wird zerschmettert, als der Typ weiterlabert. „Ich bin James, investigativer Journalist.“
„Das erklärt das blaue Auge.“ Mich meiner Höflichkeit entsinnend, füge ich hinzu: „Alexi.“
„Freut mich. Das Veilchen geht aufs Konto des Bürgermeisters, der sauer war, weil ich ihn beim Sex mit seiner Affäre aus dem Schrank fotografiert habe. Vergaß, den Blitz auszuschalten. Die Affäre hat sich als die Ehefrau herausgestellt, leider. Du bist ein Vampir, oder?“ Wann atmet der Kerl überhaupt? Und wie, verdammt nochmal, wenn er ohne Punkt und Komma spricht? Dazu dieser erwartungsvolle Ausdruck, mit dem er mich beäugt. Mist, ich habe einen Reporter an der Backe, egal was ich tue.
„Ja“, seufze ich und frage mich, wie ich es abwenden kann, das Schicksal des armen Bürgermeisters zu teilen und ebenfalls aus dem Wandschrank fotografiert zu werden. „Wenn du ein Interview willst, gut, dafür lässt du mich danach in Ruhe, okay?“
„Deal.“ Er hebt seinen Notizblock hoch und seine Augen leuchten, ähnlich jenen eines Kindes an Weihnachten. Ich hasse mein Leben, zumindest momentan. Das Gute an der Unsterblichkeit ist, man überlebt jede noch so lange üble Phase. James wechselt derweil in seine beste Reporterstimme: „Wie alt sind Sie, Alexi?“
„Dreiunddreißig“, antworte ich, ehe ich verstehe, was er wissen will. „Naja, eigentlich Zweihundertfünfzehn, ich wurde mit Dreiunddreißig gebissen.“
„Stimmen die Mythen, die man sich so über Vampire erzählt? Sie wissen schon, Spiegel, Knoblauch, Pfähle, Sonnenlicht …“
„Also Sonnenlicht geht mit Lichtschutzfaktor Fünfzig für einige Sekunden, danach muss ich eine Decke über den Kopf ziehen, um spontane Selbstentzündung zu verhindern. Im Spiegel hingegen sehe ich mich, was denken Sie, wie ich sonst so gut aussehen könnte? Frisieren wäre ja unmöglich.“
„Keine Ahnung, vielleicht wurden Sie gebissen, als Sie gerade gut aussahen?“
Ich wünschte mir, dass Vampire magische Wesen wären, die solche Dinge können, aber nein, wir sind auch nur untote Menschen, quasi wie Beamte. Trotzdem grinse ich ein wenig. „Nein, ganz so funktioniert das nicht, ich muss mich normal frisieren.“
„Hm“, er unterbricht sich und kratzt sich an der Nase, „wie ist es mit der Sache mit den Holzpfählen, stimmt das?“
„Ich hab’s nie ausprobiert“, entgegne ich wahrheitsgetreu, verschweige allerdings die Gänsehaut, die mir beim Anblick jedes Zaunpfahles über die Arme kriecht, immerhin ist so eine Phobie ziemlich peinlich, selbst wenn man ein Vampir ist.
„Okay“, macht James enttäuscht. Wie lange wird es wohl dauern, bis er verstummt und ich meine Blutkonserven klauen kann? Bei meinem Glück eine kleine Ewigkeit. Unnachgiebig löchert mich der Journalist weiter: „Wer hat Sie gebissen?“
„Graf Dracula. Wir sind noch heute gute Freunde und skypen alle paar Wochen.“
Er schaut mich entgeistert an. „Dracula ist real? Sie wollen mich veräppeln, oder?“
Lustig wäre es durchaus, den Trottel zum Narren zu machen, dummerweise bin ich dazu viel zu anständig (immerhin betrete ich ungebeten auch kein Haus), daher bleibe ich bei der Wahrheit: „Dracula ist real. Bloß sehr medienscheu. Seine Adresse unterliegt strikter Geheimhaltung.“
„Okay“, brummt der Journalist erneut, da hellt sich seine Mine auf und mir schwant Böses. „Wie steht es mit den ganzen Klischees, die man aus den Vampir-Romantik-Geschichten kennt?“
Ich habe meine Selbstkontrolle aufgegeben und ächze hörbar. „Was denken Sie denn? Ein flotter Dreier mit einem Werwolf wäre total eklig, haben Sie schon mal an einem gerochen? Die haben nicht die geringste Ahnung von Körperpflege, wenn Vollmond ist!“
„Aber …“
Ich fahre ihm ins Wort. „Nichts aber, fertig, Schluss aus! Fragen Sie mich etwas Intelligentes oder lassen Sie mich Blutkonserven stehlen!“ Da es mir zu blöd geworden ist, in die Glubschaugen meines Gegenübers zu starren, krame ich stattdessen in meiner Tasche herum und bringe meinen Labello zum Vorschein.
„Okay, okay. Ist der Fettstift typisch für Vampire?“
„Jup“, lüge ich, nun ohne jede Reue. Der Typ hat mich nach Romantik-Fantasien gefragt, dafür soll er bezahlen. „Gegen rissige Stellen, in denen sich Blut unschön verteilt. In meinen Kreisen sagt man: ‚Labello – für das perfekte Beisserlebnis!‘“
Der Journalist nickt. „Macht Sinn.“ Endlich kehrt das langersehnte Schweigen ein, vermutlich bringt James sein Gehirn auf Touren, um weitere Höllenqualen für mich auszuhecken. Sein Herz pumpt Blut in die grauen Windungen, vorbei an der Halsschlagader … Verdammt, jetzt knurrt mein Magen.
„Alexi? Weshalb klauen Sie Blutkonserven, wenn Sie Menschen beißen könnten?“
„Wieso kaufen Sie fertig geriebenen Parmesan im Supermarkt, wenn sie eine Kuh stehlen könnten?“, kontere ich. „Die Polizei interessiert sich weniger dafür. Außerdem hatte ich ein paar Horror-Trips und hielt sogar mal die Sonne für den Mond, nachdem in den Sechzigern Hippies biss, seitdem bin ich sehr skeptisch, was Frischkost anbelangt. Bei Blutkonserven hingegen übernimmt das Spital die Vorsortierung.“
„Sie sind dementsprechend ganz pragmatisch und ungefährlich, kein richtiges Monster“, meint der Reporter erfreut. Nun reicht es mir endgültig und da niemand hinsieht, packe ich den Idioten beim Schlafittchen, blecke meine Zähne und zische: „Genug von dem Blödsinn. Du und ich, wir gehen jetzt in den Hinterhof und dann zeige ich dir, was ein Monster ist!“
„Okay.“ Warum um Himmels willen lächelt er? Egal, ich schreite mit ihm durch die Tür und wir biegen ums Gebäude. Auch, wenn das Risiko grösser ist, das muss es wert sein, ihn zum Schweigen zu bringen. Mich zu beschuldigen, ein knuddeliger Popkultur-Vampir zu sein, ist schlichtweg das Letzte! James stolpert vorfreudig neben mir her, ganz so, als würde ich ihm gleich einen Neuwagen schenken und schließlich verrät er mir den Grund: „Du hast vor, mich zum Vampir zu machen, richtig?“
Verflucht. Ich bin einfach zu ehrenhaft, um jemandem eine Bitte abzuschlagen, wenn sie mal ausgesprochen ist. Derweil fährt er aufgeregt fort: „Ich könnte Bücher über unsere Erlebnisse schreiben, ‚Die unglaublichen Abenteuer von Alexi und James‘, ‚Alexi und James gegen den Werwolf von Barkerville‘ und …“
Schnell blende ich ihn aus. Ich bin ein Fürst der Finsternis, verdammt, keine Dreigroschenromanfigur! Vor meinem geistigen Auge spielen sich Szenen aus einer schrecklichen Zukunft ab, eine Endlosigkeit, in der mir dieser impertinente Reporter ständig wieder über den Weg läuft, in meiner Gruft beim Kartenspiel sitzt und Witze über Blutorangen reißt … Ich bin ein Monster, klar, solche Höllenqualen verdiene trotzdem nicht einmal ich!
Panisch springe ich auf den nächsten Balkon hoch und renne von da mit wehend schwarzem Mantel die Feuertreppen hoch, bis ich aus James Sichtfeld entschwinde und mich ungestört in eine Fledermaus verwandeln kann. „Alexi, komm zurück!“, kann ich die Rufe noch mehrere Blocks weit hören. Ich bin ein Vampir und mehr als zwei Jahrhunderte konnten mir nichts anhaben, aber dieser Kerl hatte mich in weniger als einer Stunde geschafft und in die Flucht geschlagen. Ich hoffte inständig, er sucht anderswo als auf dem Friedhof nach mir, wenigstens in der Gruft darf ich doch wohl noch meine Ruhe haben.