Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Diese Geschichte ist Teil der lose verbundenen Story-Reihe „Weihnachtsdorf“.
„Ach“, seufzte Marcel und lehnte sich an den Glühweinstand, ehe er den Becher mit der gewürzten Brühe halb stürzte. Nach kurzem Doomscrolling auf Twitter, wo er viel zu wenige niedliche Katzenbilder gesehen hatte, war ihm danach, wieder mehr in Festtagsstimmung zu kommen, also sah steckte er die kalten Hände in die Taschen seiner „Jack Reindeer“-Jacke und sah sich auf dem Weihnachtsdorf um. Es wurde spät, viele Elfen waren nun auf dem Heimweg und die Menge hatte sich gelichtet, endlich konnte man sich frei bewegen. Die Nordlichter zuckten sich über den Himmel, die Sterne, der Schnee und die Lichterketten funkelten und alle paar Minuten donnerte ein weiterer Düsenschlitten über sie hinweg – wahrlich eine Idylle, in der er lebte, dachte sich Marcel, als er seine Mütze über die spitzen Ohren zog.
„Hey, ist das nicht der Marcel?“, hallte ein Ruf über das Gelände und erstaunt sah er auf, nur um sogleich zu hören: „Ja, das bist du, altes Haus!“
Nun erspähte er den Hinzugekommenen und rief überrascht aus: „Boris? Wie läuft es bei dir?“
„Hätte nie gedacht, dich hier zu sehen.“ Der alte Freund kam einen Riesenbecher Glühwein haltend fröhlich angewatschelt, ehe er sich an die andere Seite des Glühweinstandes lehnte. „Gut, gut, kann nicht klagen. Und selber? Habe gehört, du willst diese Weihnachten wieder ein Stück aufführen, sicher was Episches, in dem der Nikolaus eine Machete schwingt und ‚Jetzt wirst du Zimtsterne sehen!‘ brüllt? Muss hart sein, jedes Jahr als Regisseur was Neues zu erfinden.“
„Na ja.“ Marcel nahm einen Schluck von seinem Glühwein. „Diesmal gibt es eine Comedy, ‚Rudolph allein zuhaus‘. Brauche nur noch genug Darsteller, die gerne in einem Rentierkostüm auftreten, dann läuft das.“
Boris lachte herzhaft. „Rentierkostüme? Klingt toll, vielleicht bewerbe ich mich, schreib mit eine WhatsApp, wenn du noch Leute suchst, ja?“ Bevor Marcel antworten konnte, wechselte Boris das Thema: „Hey, wie geht’s eigentlich Liv? Habe deine Alte schon ewig nicht mehr gesehen.“
„Sie hat den Bikini-Stand gesucht, weil sie eines fürs Eisbaden braucht. Es wird ja wohl auf einem Weihnachtsmarkt ein paar gute Kleiderstände haben, sie taucht sicher bald wieder auf.“ Mit klammen Fingern nestelte er sein Päckchen filterlose „Bonhommes“ aus der Tasche und steckte sich eine an.
„Du qualmst die Sargnägel immer noch?“ Boris gestikulierte überrascht auf die Fluppe. „Ich hätte gedacht, Liv würde dir den ganzen Hipster-Kram verbieten und du würdest erwachsen oder so.“
„Nein, nein, wir sind beide völlige Hipster bis zum Tod“, konterte Marcel trocken und überlegte, wie er den anderen loswerden konnte. Boris mochte zwar ein toller Schauspieler sein, aber als Gesprächspartner für Smalltalk taugte er leider denkbar wenig.
„Ihr wohnt sicher immer noch in eurer Blockhütte“, meinte Boris und ergänzte dann stolz: „Ich habe jetzt eine Wohnung an einem etwas gemäßigteren Ort gefunden und pendle, mal sehen, ob ich so im Frühling sogar ein paar Maiglöckchen oder Krokusse zu Gesicht bekomme.“
„Du bist vom Nordpol weggezogen? Echt?!“ Marcel starrte den anderen Elf entgeistert an. „Wieso? Was ist gegen Eis das ganze Jahr über einzuwenden?“
„Na ja, es ist kalt. Plus, denk nur an alles, was unter den zugefrorenen Meeren hier in der Gegend lauert. Habe erst gestern im Internet gelesen, da sei immer mindestens ein U-Boot stationiert, bereit, entweder alle abzuhören oder Atomraketen abzufeuern.“
„Ein … okay.“ Marcel schluckte, er hätte sich daran erinnern sollen, wie naiv Boris manchmal war. Wenn etwas im Internet stand oder irgendwo gedruckt war, glaubte er es. „Es gibt doch keine Verschwörung der Weltmächte, das Weihnachtsdorf als Basis zu nutzen, Mann. Da hast du irgendeine klausverdammte Rentierkacke gelesen, die so ein komischer Trottel gepostet hat.“
„Nein, nein, das ist echt“, empörte sich Boris sogleich, „glaub mir! Die machen das mit Absicht, wer würde hier ein U-Boot vermuten? Elfen sind nicht gerade als bedrohliche Rasse bekannt.“
„Hohohoho“, hallte es über den Weihnachtsmarkt und Santa langte gleich beim Glühweinstand an, ehe er sich an Boris wandte und mahnend der Finger hob: „Erzähl mal keine solchen Gerüchte hier, Jungchen. Es gibt keine U-Boote bei uns, hier ist alles ruhig und beschaulich. Plus: Wir haben Rentiere, das rentiert mehr.“
Boris schien angestrengt nachzudenken, seit der Nikolaus sich von seinem Drogenproblem erholt hatte, sah Boris ihn scheinbar wieder als die absolute Stimmte der Autorität am Nordpol. Zufrieden nickte er schließlich. „Wer wäre ich, den Weihnachtsmann anzuzweifeln? Offenbar hatte ferdinand1992 im Internetforum nicht recht, auch die besten Forenposter täuschen sich mal. Danke für die Info, Santa!“ Damit wandte sich Boris an Marcel. „Nun denn, altes Haus – schreib mir, wenn du Rentiere, ich meine, Schauspieler brauchst, ich spreche gerne vor. Habt einen schönen Abend, die beiden.“
„Danke, dir auch“, verabschiedete sich Marcel, während Boris bereits davonschlenderte und an einem entfernteren Zimtstangenstand einen Halt einlegte. „Sag mal, Santa – woher wusstest du, über was wir sprachen? Du warst sicher nicht in Hörweite.“
„Hohohoho“, machte der Weihnachtsheld verlegen und kratzte sich am Bart, ehe sich seine Miene wieder aufhellte: „Ich bin der Nikolaus, ich weiß alles und …“ Er unterbrach sich und stieß einen tiefen Seufzer aus, der beinahe den Stand zum Erbeben brachte. „Nein, ich kann den besten Entertainer und Weihnachtsmagie-Junkie hier am Nordpol nicht anlügen. Seit damals die Al-Kaida den Schlitten mit Rudolph gesprengt hat, ist meine Welt nicht mehr dieselbe und ich habe ein paar Deals mit befreundeten Nationen abgeschlossen, um stets gut geschützt zu sein. Du weißt schon, hier ein paar Mittelstreckenraketen stationieren, da dem Präsidenten Nüsse statt Kohle in den Strumpf legen, solche Dinge halt. Man tut, was man muss.“
„Halt mal, also hatte Boris’ Internet-Troll recht und es sind hier in der Nähe tatsächlich militärische U-Boote?“
„Natürlich, letztes Jahr haben sie endlich den Grinch mit einer ICBM erwischt, hohohoho, das hat einen ziemlichen Knall gegeben! Es lohnt sich, Alliierte zu haben, mein kleiner Freund, vor allem, wenn sie mit ihrer Überwachungstechnologie alles sehen. Sie seh’n euch wenn ihr schläft, sie seh’n euch wenn ihr wach seid, ein paar geheime Überwachungsaktionen sparen unserer Rechercheabteilung eine Menge Arbeit. ‚Lass das Militär tun, was auch Elfen-Analysten tun können, dann haben die dafür mehr bezahlten Urlaub‘, wie ich zu sagen pflege.“
Marcel starrte den Weihnachtsmann mit geweiteten Augen an, damit hätte er in seinen kühnsten Träumen nicht gerechnet. „Santa …“
Der Nikolaus bückte sich zum kleineren Marcel herunter, zwinkerte und senkte die Stimme: „Das darfst du nie jemandem erzählen. Hohohoho, das würde ein diplomatischer Albtraum! Das ist unsere kleine Verschwörung, nur zwischen dir und mir, ja?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, erhob sich Santa fröhlich. „Nun denn, Zeit für meine Geschäftsreise nach Europa, man sieht sich. Frohe Feiertage, Marcel, ich habe deinen Strumpf mit neuem Stoff gefüllt.“ Damit hastete er zu seinem auf einer nahen Fläche geparkten Schlitten und sprang auf das Gefährt. Als die Rentiertriebwerke zündeten und der Schlitten über ihn hinwegglitt, konnte Marcel sehen, wie Santa ihm mit auf die Lippen gelegtem Zeigefinger zublinzelte. Sogleich donnerte das Gefährt in den Himmel und ein Überschallknall ertönte. Nachdenklich starrte Marcel in seinen Glühweinbecher und fragte sich, ob das Militär auch ihn sah, wenn er schlief.