Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Dies ist der 2. Teil der Fortsetzungsgeschichte „107 Minuten“.
Der Abend war kühl und Patrik hatte den Eindruck, dass sich die Sonne viel zu früh hinter den städtischen Reihenhäusern versteckt hatte. Er war achtunddreißig Jahre alt, trug stets ein gleichmütiges Lächeln auf den Lippen und ein melancholisches Flackern in den Augen, das viel mehr über ihn verriet, als seine wortkarge Natur es erlaubt hätte. „Hey Pat, Kaffee?“ Diego unterbrach die angenehme Stille, die nur von leise säuselnden Fahrgeräuschen untermalt wurde und blickte seinen Partner erwartungsvoll an, welcher die Frage mit einem knappen Grunzen beantwortete und sich dann wieder auf die regennasse Straße konzentrierte.
Die Kirchenuhr würde in wenigen Minuten neun Uhr schlagen und durch die nur einen Spaltbreit geöffneten Fenster sickerte ein schnulziges Liebeslied in den geparkten Wagen. „Oh Mann, schon wieder müssen wir wegen häuslicher Gewalt ausrücken“, stöhnte Diego, währendem er nochmals die Adresse, die er mit seiner krakeligen Handschrift auf einem Zettel notiert hatte, überprüfte. „Hier sind wir, Käferallee 100.“ Patrik fischte mit den Fingern seiner rechten Hand kurz nach der Sicherheitsgurtschnalle und löste sie schließlich, bevor er sich zu dem dunkelhaarigen Polizisten wandte und mit einem eindringlichen Tonfall nachhakte: „Und du bist sicher, dass wir hier richtig sind?“ Er hatte den Jungen, seit er zum ersten Mal mit ihm auf Streife gewesen war gemocht, denn anders als sein vorheriger Partner verstand es Diego, seine schweigsame Art nicht falsch zu interpretieren und hielt ihn mit gelegentlichen Scherzen bei guter Laune. Ja, er mochte Diego und erkannte ihn dem ungestümen jungen Mann großes Potential, auch wenn er noch viel zu lernen hatte und sein Orientierungssinn eine Katastrophe war.
„Wo ist die Frau?“ Die Altbauwohnung roch nach Marihuana und ungewaschenen Klamotten und in der hinteren Ecke des schäbig eingerichteten Wohnzimmers konnte er mehrere verdächtige Plastiksäcke erkennen, die unter einer alten Lampe lagen; seine Großmutter hatte auch so eine gehabt und Patrik erinnerte sich beiläufig daran, wie er als Kind die gestickten Blumen auf den Lampenschirm gezählt hatte, wann immer er sich während den Abendnachrichten gelangweilt hatte. „Was für eine Frau?“, fragte einer der Anwesenden irritiert, währendem er vergeblich versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass er unter Drogeneinfluss stand. Der kleinere der beiden Männer hatte ihnen zum Glockenschlag die Tür geöffnet und sie scheinbar ahnungslos hereingebeten. Patrik und Diego waren ihm, erstaunt über die prompte Einladung, vorsichtig gefolgt und nun standen sie hier, neben der abgewetzten Couch eines Drogendealers, dessen Kumpel wohl nicht gewusst hatte, dass man die Polizei nicht zu Soda und Keksen hätte einladen müssen. Die Luft knisterte vor Anspannung und war stickig vom aufgewirbeltem Staub, doch Diego ließ sich nicht erschüttern und erkundigte sich erneut: „Wo ist sie? Wir wollen nur mit ihr sprechen.“ Seufzend schob Patrik den stürmischen Polizisten mit einer dezenten Gebärde beiseite und lächelte den aufgeregten Dealer entwaffnend an.
Gestern hatte Patriks Tochter ihren zwölften Geburtstag gefeiert und er wusste nicht, was ihm mehr Sorgen bereiten sollte, die Tatsache, dass sie sich ein Pony gewünscht hatte, das er ihr natürlich nicht gekauft hatte, oder dass sie schon in wenigen Jahren nichts mehr von Pferden würde wissen wollen. Der feuchtwarme Nachmittag war schleppend verlaufen, dennoch würde daraus eine wundervolle Erinnerung werden, an die er im hohen Alter gerne zurückdenken würde. Seine Frau hatte ihr lockiges Engelshaar offen getragen und er hatte den daran haftenden Duft des frischen Heus tief eingesogen, beinahe getrunken, als sie sich auf seinen Schoß gesetzt und sanft geflüstert hatte: „Ich liebe dich, mein Held.“ Er hatte gelacht und sich zum wahrscheinlich tausendsten Mal über den ihm peinlichen Spitznamen beschwert. Insgeheim freute er sich über den Heldentitel, den ihm seine liebreizende Frau verliehen hatte und in Situationen wie diesen, in denen er sich nicht sicher war, ob es richtig war sein Leben zu riskieren, versuchte er sich immer daran zu erinnern. Er war als Held nicht einmal annährend perfekt, aber er gab jeden Tag alles in seiner Macht stehende um die Welt zu einem sicheren Ort zu machen und das, davon war er überzeugt, war immerhin etwas.
Der ältere der beiden Männer trat einen Schritt auf Patrik zu, so nahe, dass dieser den Alkohol in seinem Atem und das Zittern seiner schwabbeligen Arme wahrnehmen konnte. „Hier ist keine Frau. Verpisst euch, ihr Drecksbullen!“ Ruhig aber bestimmt deutete Patrik dem unhöflichen Kerl zurückzuweichen, zog einen verbotenen Glimmstängel aus seiner Brusttasche und zündete ihn gelassen an, bevor er zwischen zwei Zügen sagte: „Wir haben die Meldung bekommen, dass hier eine Frau mit uns sprechen möchte.“ Währenddessen, so als hätte er die aufgeheizte Stimmung nicht bemerkt, bot der Kumpel, welcher sich vorhin ohne Widerworte als Mark identifiziert hatte, Diego an sich hinzusetzen und wollte ihm eine Dose Cola reichen. Dieser winkte die freundliche Geste mit einem Schmunzeln ab, entspannte sich etwas und beobachtete Patrik aufmerksam. „Wir wollen keinen Ärger und wir sind nicht wegen den Drogen hier.“
Obwohl man es seinen gutmütigen Augen, die von dichten Brauen beinahe erdrückt wurden, nicht angesehen hätte, hatte Patrik eine wilde Jugend hinter sich und so einige Schandtaten auf dem Kerbholz gehabt, bevor er sich dazu entschlossen hatte, die Seiten zu wechseln und Polizist zu werden. Vielleicht gelang es ihm gerade deshalb besonders gut, zwielichtige Gestalten zur Kooperation zu überzeugen, weil er nicht nur so tat, sondern wirklich der Meinung war, dass in jedem ein Funke Anstand zu finden war – man brauchte nur zu wissen, wo man suchen musste. „Also“, begann er und bemühte sich darum, dem stechenden Blick des aufgebrachten Dealers mit einer Ausstrahlung von Ruhe zu begegnen. „Können wir jetzt mit ihr reden?“
Irgendetwas knallte und Patrik blinzelte verwirrt, als er Diegos spitzen Schrei vernahm. Der Schuss kam unerwartet und traf ihn aus weniger als dreißig Zentimeter Entfernung in den linken Lungenflügel „Oh mein Gott!“, hörte er seinen Partner rufen und weil er noch immer nicht verstand, was geschehen war, versuchte er Mark, welcher ihn völlig verstört anstarrte, einen aufmunternden Blick zuzuwerfen. Plötzlich und ohne Vorwarnung kam sein eingefrorener Verstand wieder in die Gänge und Patrik realisierte, dass er auf dem dreckigen Fußboden lag und es ihm mit jedem Atemzug schwerer fiel, seine Lungen mit Sauerstoff zu füllen. Dunkle Blutspritzer erschienen wie durch Magie auf seiner Handfläche, als er versuchte ein schmerzhaftes Husten zu unterdrücken und aus dem Augenwinkel konnte er erkennen, dass sich jemand zu ihm herunterbeugte. „Es tut mir so leid“, sagte Mark bestürzt, griff nach etwas und rannte weg. Die Küchenuhr, die verstaubt und verklebt auf dem Couchtisch lag, zeigte an, dass es sieben Minuten nach Neun war und Patrik fragte sich, ob seine Kleine wohl schon im Bett war.
Lautes Rauschen trübte seinen Gehörsinn und Patrik schien es, als wäre er in einer Metallröhre gefangen, von deren Wänden ein unnatürliches Echo hallte. „… angeschossen. Ich wiederhole, Polizist …“ Diego lag beinahe auf ihm drauf und redete unentwegt. Er mochte den Jungen, aber es wäre schön wenn er wenigstens ausnahmsweise mal schweigen könnte. Erschöpft und mit einem fragenden Ausdruck suchte er das ebenmäßige Gesicht des unerfahrenen Polizisten nach Antworten ab, dieser erwiderte prompt, wenn auch nicht sonderlich aufschlussreich: „Oh nein, oh verfluchte Scheiße, nein!“ Hektisch fuhr sich Diego mit den Händen durch seine lockigen Haare, nur um sie dann auf Patriks Gesicht zu pressen. „Hier ist keine Frau, wir haben die falsche Adresse!“, stammelte er schockiert. „Patrik, ich …“
„Es wird alles gut, keine Angst!“ Ruhig wiegte der Sterbende seinen Kopf von einer Seite auf die andere und ließ seine schweren Augenlider zufallen. Er dachte an Ponys und den süßlichen Duft von Heu an einem warmen Nachmittag, er dachte an Pizza, sein Motorrad und das Kino, in dessen Korridor er seinen ersten Kuss gestohlen hatte. Er dachte an den Atem seiner Frau in seinem Nacken und die Stimmen seiner Tochter, die frühmorgens immer viel wacher war als er und er schlief friedlich und ohne Reue ein.