Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Sag mal“, fragte Harry leise, auf die weite, von unzähligen Natriumdampflampen bestrahlte italienische Metropole schauend, die sich vor ihnen ausbreitete, „wann waren wir uns eigentlich sicher?“
Lara, die sich neben ihm auf eine Bank gesetzt hatte, zuckte ratlos mit den Schultern. „Keine Ahnung, das war vor langer Zeit. Vor fünfzehn Jahren?“
Harry drehte sich zu ihr. „Wollen wir?“ Sie erhob sich, nahm ihren Gehstock und strich eine Strähne ihres grauen Haars aus dem Gesicht. Langsam schritten sie auf die große historische Stätte hinter ihnen zu. Vom Rand hatten die beiden freie Sicht auf das Feld am Stadtrand, auf dem sich in der Dunkelheit Ruinen ausbreiteten, die Überbleibsel eines Anwesens aus der Zeit des römischen Reiches.
Gemächlich schlenderten die beiden Senioren zwischen den Fundstücken, die im Laufe der Ausgrabungen der letzten fünf Jahre freigelegt worden waren. Harry summte heiter eine Melodie, deren Text ihm unbekannt war und Lara besah sich abwesend die Ruinen. Die beiden spazierten den Mauerfragmenten entlang, einige in gutem Zustand und mannshoch, andere hingegen ziemlich zerfallen. Harry meinte zu seiner Kameradin und Ehefrau: „Weißt du noch, als wir jung waren? Wir hatten unsere Träume von Abenteuern, so viele Erinnerungen …“
Lara lachte heiser. „Ja, das waren Zeiten. Als ich noch klein war, habe ich davon phantasiert Atlantis zu finden, eine Entdeckung zu machen, welche die Weltgeschichte verändert. Man hätte mir nicht mal in Kindersprache erklären können, wie verrückt meine Idee war.“ Sie unterbrach sich und seufzte. „Der größte Fund des Jahrhunderts.“
„Und jetzt stehst du auf den Grundmauern einer römischen Villa“, feixte Harry. „Archäologie und Geschichtsforschung müssen einfach Freude machen, ohne Idealismus wäre vieles unentdeckt geblieben. Stell dir vor, wir lebten in einer Welt, in der wir nichts über Troja, die Hellenischen Bibliotheken oder die Vergangenheit des römischen Reiches wissen würden.“
Lara erschauerte kurz und machte es sich auf einem Mauersegment mit Ausblick auf die Ausgrabungsstätte gemütlich, offenbar war sie müde vom Gehen. „Das wäre keine Welt, in der ich existieren möchte. Ein Dasein ohne Wissensdurst, Forschung und Entdeckergeist, grauenhaft! Keine Kulturgeschichte, kein Verständnis für unsere Herkunft …“
Harry ließ sich neben seiner langjährigen Gefährtin nieder und zog eine dünne Decke aus dem Rucksack, den er bei sich trug. Die Nacht war kühl, also deckte er seine und Laras Beine zu. In einem Anflug von Nostalgie murmelte er: „Erinnerst du dich, wie dein Professor behauptet hat, dass du weniger idealistisch sein sollst, weil Archäologen bodenständige Leute seien?“
Lara gluckste und lehnte sich zurück, um einen Blick auf den Nachthimmel zu werfen. „Stimmt, der alte Doktor Jones, der war eine Klasse für sich. Dafür hat er nach fliegenden Untertassen gesucht, bislang erfolglos.“
„Genau“, erwiderte Harry amüsiert. „Wir sollten ihm einen Traumfänger schenken.“
„Ja, die guten alten Zeiten, in denen wir die Welt kaum ernstgenommen haben. Irgendwie vermisse ich sie.“ Sie pausierte und betrachtete gedankenverloren die Scheibe des Mondes. „Ich halte zwar gerne Vorlesungen und Seminare, aber es ist nicht dasselbe, als im Dreck zu wühlen. Auch wenn es niemanden in der Öffentlichkeit interessiert, wenn wir eine weitere römische Villa entdecken.“
Harry schwieg für einige Zeit und sah sich auf der Fundstätte um. Schließlich wurde er nachdenklich: „Und das wird wohl unser letzter ruhiger Abendspaziergang hier sein. Du kannst dir ja das Trallala vorstellen, wenn in einer Woche das Semester beginnt und sie Neulinge auf die Ruinen loslassen. Jeder wird uns mit Fragen löchern, weil wir die Ausgrabungen geleitet haben.
„Ich weiß nicht, ob ich da sein und den Studenten ihre Illusionen aus Abenteuerfilmen rauben möchte“, wandte sie grüblerisch ein. „Versteh mich nicht falsch, ich finde das Unterrichten wichtig, trotzdem ist es einfach nicht so mein Ding, ich krabble lieber durchs Feld.“ Sie ergänzte harsch: „Hörsäle und Essen in der Mensa kann ich einfach nicht ab.“
Harry gab ein zustimmendes Brummen von sich und kramte ein in Sternchenpapier eingepacktes Geschenk aus seinem Rucksack, das er seiner Frau überreichte. „Meines auch nicht, darum habe ich etwas für dich aufgetrieben.“
„Oh, was ist es?“, wollte sie erstaunt wissen, doch er nickte ihr nur aufmunternd zu und bedeutete ihr, es zu öffnen. Bedächtig wog sie es in den Händen. „Es ist leicht.“
„Komm schon, mach es auf“, drängte Harry sie mit einem Grinsen der Vorfreude. „Es wird dir gefallen, du verrückte Archäologin.“
„Ein Relikt?“ Mit plötzlicher Euphorie riss sie das Papier vom Karton, dann klappte sie ihn auf. Harry sah ihr dabei mit einer Aufregung zu, die einem kleinen Jungen an Weihnachten würdig gewesen wäre. Sie gab ein begeistertes Geräusch von sich, langte in die Schachtel, nahm das alte Pergament heraus und rollte es vorsichtig auf. „Wow, unglaublich!“
„Moment, das ist noch nicht alles“, sagte Harry hastig und reichte ihr eine Taschenlampe. Gespannt leuchtete sie damit auf das Relikt und untersuchte es. „Latein“, flüsterte sie konzentriert und begann damit, die Inschrift zu übersetzen. Harry beobachtete sie ungeduldig und lächelte, als sich ihr Ausdruck erhellte, so wie er es seit langem nicht mehr getan hatte. Rasch schaute sie auf. „Und das ist ein Original?“
„Ja, ich habe es überprüft“, entgegnete er und wartete einen Augenblick, bevor er hinzufügte: „Es ist echt.“
„Aber dann …“, setzte sie an und räusperte sich. „Dann könnten wir damit die verlorene Stadt Acerrae Vatriae finden!“
Harry ergriff ihre Hand und wirkte nervös. „Genau.“ In einem scherzhaften Ton fuhr er fort: „Sofern wir nicht zu alt dafür sind, unsere Karrieren hinzuwerfen, bloß um uns vor der ganzen wissenschaftlichen Gemeinde zu Hornochsen zu machen.“
Entschlossen erhob sich Lara. „Man ist nie zu alt, um neues entdecken und lernen zu wollen! Für mich ist Wissenschaft ein Abenteuer, aufregender als jede Professur es je sein könnte und dafür muss man Risiken eingehen. Ich sterbe lieber kopfüber in einer Grube als vor Langeweile am nächsten Empfang.“
„Wenn du willst können wir morgen aufbrechen“, schlug Harry vor und legte seine Decke weg. „Ich habe einen Bekannten, der seinen Jeep verkaufen will und kenne knapp zwanzig Postdocs, die sich darum prügeln würden, unsere Vorlesungen zu übernehmen. Wenn wir ein paar Leute anheuern, werden wir sicherlich einigermaßen durchs Gelände kommen.“
„Wir müssen wahnsinnig sein“, kicherte sie, während sie ihrem Mann half, die Decke einzupacken. Er wandte sich ihr zu und antwortete: „Natürlich. Naja, immerhin suchen wir nach etwas realem und jagen nicht Atlantis oder El Dorado hinterher.“
„Vielleicht tun wir das ja in einem Paralleluniversum“, sinnierte Lara, als sie die Ruinen verließen.