Diese Story ist auch als Hörgeschichte und in einem Sammelband erschienen.
Diese Geschichte spielt im erweiterten Universum der „Promise“-Reihe.
Fortsetzung und Schluss zu: „Die Geburt des Ikarus“.
„Ich habe ja schon immer gewusst, der alte Ire hat einen Vogel, aber das ist schon ein klein wenig übertrieben“, kommentierte Liv trocken und ließ sich auf den Pilotensessel des alten Frachtraumschiffes fallen. Die kleine Japanerin wurde sofort von Dale angefahren, der angespannt auf die Konsole starrte, über der ein Radar-Hologramm angezeigt wurde. „Halt die Klappe, das ist ein gewaltiges Problem!“
„Einen schlechten Steuerberater zu haben, das wäre ein gewaltiges Problem“, konterte sie, während sie die Systeme des Schiffes hochfuhr. „Wenn ein Freund an einem Flugsaurier-Mutanten-Dingsbums hängt, ist es eher ein Desaster.“
„Woher du deinen Humor hast, ist mir rätselhaft“, gab er zurück, ehe er sie erinnerte: „Sie wird nicht wirklich fliegen können; es wäre ein Wunder, wenn wir überhaupt abheben.“
Der Wind peitschte um Rhys‘ Ohren und er wunderte sich, wie schnell das Viech fliegen konnte. Im Licht der beiden Monde waren unter ihnen unzählige Häuer auszumachen, verlassen, zerfallend. Im Laufe ihres kurzen Flugs wurden sie grösser und standen dichter beieinander, offenbar hielt der Vogel auf das Ortszentrum zu. Er hatte zwar den Impuls gehabt, zu schreien, ihn jedoch unterdrücken können; außerdem brauchte er die Lungen zum Atmen, was bei der hohen Geschwindigkeit einfacher klang als es war. Rhys war sich nicht sicher, was dieses Vogelwesen mit ihm vorhatte, brachte es ihn am Ende gar zu seinem Nest? Zumindest war ihm nach kurzer Zeit auf seinem Höllenritt klargeworden, dass es ihn offenbar nicht fallenlassen wollte, so wie manche Raubvögel es mit Schildkröten taten. Trotzdem stand auch für den erfahrenen Kämpfer fest, sich den Weg aus dieser Lage zu erstreiten war keine Option: Einerseits hatte er seine Waffe verloren und andererseits wurde sein geflügelter Entführer von mindestens zehn Kameraden begleitet.
Das massive Gebäude mit den beiden spitzen Türmen, das sich aus der Dunkelheit abzeichnete, war das offensichtliche Ziel des Tieres, das einen rapiden Sinkflug antrat, dabei ein paarmal mit den ledrigen Flügeln schlagend. Er erkannte das Gebäude als Kathedrale, ehe das Biest in einer Spirale, die Rhys‘ Welt rotieren ließ, durch ein zersplittertes Rosettenfenster schoss. Ein hastiges, chaotisch wirkendes Geflatter und das Wesen setzte ihm auf den steinernen Boden im Innern des Bauwerks ab.
„Was um alles in der Galaxis hast du denn aus diesem verdammten Schiff ausgebaut?“, wetterte Liv, die ihre liebe Mühe hatte, das vorsintflutliche Gefährt in der Luft zu halten. „Das Ding ist ja so bockig wie ein Esel, nein, so schnell wie ein betrunkener Rentner!“
„Was denkst du denn, was ‚Reparatur‘ bedeutet?“, konterte Dale. „Ich hoffe mal, wir schaffen es, Jayna und Porter abzuholen, ohne auf ihren Köpfen zu landen und sie dabei zu zerquetschen.“ Er sah erneut auf die über der Konsole eingeblendete holographische Uhr; bis auf den sich schleichend fortbewegenden Sekundenzeiger war nichts geschehen und er wurde das dringliche Gefühl nicht los, zu spät zu sein.
Rhys konnte ein kleines Bisschen Stolz nicht leugnen, nach seinem Wahnsinnsflug keine Spur von Urin in seiner Unterwäsche zu finden. Mühsam rappelte er sich auf, die Schmerzen in den Gelenken ignorierend, und sah sich hastig um; offenbar war das Vogelwesen einige Meter entfernt von ihm stehengeblieben und kümmerte sich vorerst nicht sonderlich um ihn. Durch die hohen Fenster zeichnete das Mondlicht die verzerrten Spuren von geborstenen Rahmen sowie gesplitterten Glas in den von ersten Pflanzen zurückeroberten Raum. Rhys fuhr zusammen, als er die unzähligen Skelette in den modrigen Kirchenbänken erkennen konnte, viele nur noch ein Häufchen Knochen, Nährboden für die Flora, einzelne nahezu intakt. Es dauerte nicht lange, bis er begriff: Das hier war eine Kathedrale der Neopuritanischen Kirche gewesen, diese Fundamentalisten waren lieber betend gestorben, als vor dem Unvermeidlichen zu fliehen.
Durch ein lautes Poltern wurde er aus seinen Betrachtungen gerissen, das vogelartige Wesen bewegte sich auf ihn zu. Aus seiner Starre erwachend aktivierte Rhys die Pager-Funktion seines Coms, die zugleich seine aktuelle Position sendete, vielleicht hatte er ja Glück und seine Freunde konnten ihn holen, bevor ihn das Ding zerfleischte. Jayna kam ihm in den Sinn und er bereute, seine Tochter vermutlich nie wieder zu sehen. Hätte er sich nur dagegen entschieden, sie nach dem Tod ihrer Mutter mit auf seiner Reisen zu nehmen, sich stattdessen irgendwo zur Ruhe gesetzt …
Das Tier hatte seinen langen Hals gereckt, roch mit gigantischen Nüstern an seinem Gesicht. Sehr zu Rhys‘ Erstaunen hatte es mehr mit einem Flugsaurier denn einem Vogel gemeinsam und er fragte sich, was auf diesem Planeten geschehen sein mochte, das solche Mutanten hervorgebracht hatte. Was für ein dummer letzter Gedanke, jetzt würde ihm Neugier auch nicht mehr weiterhelfen!
„Hey, ich versuche hier krampfhaft, uns nicht in einem feurigen Absturz zu vaporisieren“, wetterte Liv, „könntest du bitte später schauen, ob du eine neue Freundschaftsanfrage erhalten hast?“
Jayna wollte eben etwas Wütendes hinzufügen, als Dale von seinem Com aufsah: „Das ist ein Ping von Rhys‘ Gerät, er ist ein paar Kilometer vor uns. Offenbar lebt er noch!“
„Oder zumindest der Arm, an dem er das Com trägt, ist noch …“, begann Liv, unterbrach sich sogleich nach einem Seitenblick zu Jayna, die den Compoundbogen ihres Vaters hielt, und murmelte: „Ups, ich vergesse ständig, dass die Kleine ja seine Tochter ist.“
Rhys stand wie angewurzelt in der Mitte des breiten Kirchenganges und sah dem davonfliegenden Wesen hinterher. Statt zuzubeißen hatte der Mutant bloß ein zufriedenes Schnauben von sich gegeben, die Flügel ausgebreitet, um schließlich abzuheben. Er schloss sich den anderen Kreaturen an und der Schwarm war innert Kürze in der Dunkelheit verschwunden.
Fahrig nestelte er an seinem Com herum und wollte gerade noch leicht zitternd seine Freunde rufen, als er den Lärm des sich nähernden Schiffes hören konnte. Rhys konnte die Erleichterung regelrecht fühlen, alles würde gut werden. Er kannte los, auf das große Portal mit dein schief hängenden hölzernen Torflügeln zu, der Wahnsinn war in der Tat überstanden. Der Lichtkegel eines Suchscheinwerfers blendete ihn, erhellte die surreale Szene voller Farne und Knochen hinter ihm. Rhys hielt nicht an, bis er in der Porte stand, während das alte Schiff aufsetzte.
„Was genau haben denn die Biester von dir gewollt, Dad?“, erkundigte sich Jayna erneut, die seit der Landung nicht mehr von seiner Seite gewichen war. Rhys zuckte mit den Schultern und sah zum vormittäglichen Himmel auf – die Mutantenvögel waren nicht zurückgekehrt und mit etwas Glück wäre das Schiff bald repariert und zum Aufbruch bereit. „Weißt du“, murmelte er, als sie erneut in die Kathedrale eintraten, die mit den einfallenden Sonnenstrahlen beinahe idyllisch wirkte, „die Galaxis ist ein großer Ort und manchmal muss man nicht alles verstehen, um sich über sein Glück im Unglück zu freuen.“
„Ganz im Gegensatz zu diesen armen Tölpeln“, murmelte Jayna und ihm wurde einmal wieder bewusst, dass ein normaler Vater seine Tochter nicht in eine zerfallende Kirche voller menschlicher Überreste brächte.
„Na ja, so wie ich diese Sekte kenne, sind sie freiwillig hiergeblieben. Was auch immer für ein Virus oder eine Biowaffe diesen Ort zerstört hat, die meisten Leute scheinen ja mit heiler Haut entkommen zu sein. Es kann auch Nachteile haben, daran zu glauben, die Götter an seiner Seite zu haben.“
„Oder eine unsterbliche Seele zu haben“, ergänzte sie, ihrem Vater seinen Bogen reichend. „So oder so, ich hätte wirklich gerne gewusst, was hier passiert ist und wieso dich das Vieh entführt hat.“
„Es gibt nicht stets auf alles eine Antwort, das Leben ist nicht wie in den Büchern oder Holo-Filmen“, meinte der Abenteurer, dann hellte sich seine Mine auf. „Aber, und das ist viel wichtiger, in Neopuritanischen Kirchen gibt es Schätze aus Edelmetallen, weil sie nicht an die moderne Wirtschaft glauben. Wenn wir also ganz viel Glück haben, hat sich unsere Reise hierhin am Ende sogar gelohnt, denn …“
„Dad!“, unterbrach Jayna ihn, drückte sich an seine Seite und zog den Blaster. Er konnte, ihrem Fingerzeig folgend, das Saurierwesen über ihnen auf einem Deckenbalken sitzend ausmachen. Blitzschnell griff er sich einen Pfeil und spannte ihn ein, doch etwas hielt ihn davon ab, gleich zu schießen. „Warte“, befahl er, im nächsten Moment klatschte etwas auf den Schädel eines Kirchgängers einige Reihen vor ihnen, brachte ihn zum Bersten und zerplatzte zugleich selbst. „Scheiße, was …!“, rief Jayna aus, die zusammengezuckt war. Rhys musterte das Durcheinander vor ihm verwirrt. Seine Tochter war schneller und brach in schallendes Gelächter aus: „Eine Wassermelone – Dad, es will dich füttern!“