Das alte Turboprop-Passagierflugzeug gab nicht sonderlich vertrauenserweckende Geräusche von sich, während es mit laut brummenden Propellermaschinen ruckelnd über die Einöde der russischen Tundra flog. Yelena war die langweilige Strecke schon einige Male geflogen und hatte sich mittlerweile derart an die Macken der antik anmutenden Luftflotte gewöhnt, welche diese Strecke bediente, dass sie sich davon nicht mehr aus der Ruhe bringen ließ. Entspannt saß sie auf dem zerschlissenen Polster an ihrem Fensterplatz und ließ ihren Blick durch das kleine Fenster nach draußen wandern, während sie den Roman, welchen sie gerade ausgelesen hatte, geistesabwesend auf den leeren Sitz neben sich legte. Es war der vierte Januar, das neue Jahr war noch jung und trotzdem hatte sie das Gefühl, also ob sich gar nichts verändert hatte – wieder einmal. Jedes Jahr war es dieselbe Geschichte, sinnierte sie: Man freute sich auf einen Neuanfang, fasste gut klingende Vorsätze und irgendwann im Laufe des Silvesterabends begriff man, dass diese genauso hohl und witzlos waren wie immer. Der viel zu euphorische Optimismus verflog und machte der Realität Platz, die jedoch bald darauf unter einem Dunstschleier aus zu viel Alkohol verschwand, wo sie erst am Tag darauf, zusammen mit einem gewaltigen Kater, wieder auftauchte. Yelena lachte bei dem Gedanken leise vor sich hin, während sie sich erhob und zielstrebig in Richtung der Toilette ging, um ihre Kontaktlinsen einzusetzen, da sie am Flughafen mit ihrer Lesebrille kaum wohl wäre.
Als die Ingenieurin in ihren mittleren Jahren in den Spiegel blickte hatte sie das Gefühl, dass ihre blonde Kurzhaarfrisur aussah, als ob sie in einen Mähdrescher geraten war. Sie schnitt ihrem Spiegelbild einige Grimassen und versuchte dabei wie ein Zombie auszusehen, was ihr aber nicht so recht gelingen wollte. Andererseits, überlegte sie, dass man nach einer ermüdenden Reise von München bis zu einer der höchstgelegenen Gasförderplattformen Russlands durchaus etwas von einer Untoten an sich hatte. Nachdem sie den Trip das zehnte Mal hinter sich gebracht hatte, hatte sie damit aufgehört sich zu fragen, ob sie mehr Zeit mit umsteigen oder mit fliegen zubrachte, während sie auf ihrer Reise halb Eurasien durchquerte. Der Behälter mit ihrer Kontaktlinsenlösung fiel zu Boden, als ein leichter Ruck das Passagierflugzeug ins Wanken brachte. Während sie sich mit einem leisen Fluch auf den Lippen nach unten beugte, um sich den Schlamassel anzusehen, fiel ihr wieder mal ein, auf wie viele Annehmlichkeiten sie hier draußen verzichten musste. Sie konnte sich nicht im Frühling auf den Gartenstuhl setzen und dazu die in den Blumentöpfen auf dem Balkon ihres Apartments spießenden Tulpenzwiebeln beobachten. Doch dies war das Leben, das sie gewählt hatte, und auch wenn für Yelena der Blumentopf längst zum Symbol für den Verzicht auf ihr bequemes Leben geworden war, an das sie fast jeden Tag dachte, so konnte sie doch nicht leugnen, dass sie mit ihrem Leben ziemlich zufrieden war. Während sie mit etwas Klopapier die ausgeleerte Lösung aufwischte, wanderten ihre Gedanken wieder zu den Vorsätzen, die sie sich gefasst hatte: Sie hatte sich vorgenommen, in der Firma endlich aufzusteigen, besser bezahlt zu werden und in einem Büro zu sitzen, statt Arbeiter, die meist mindestens einen Kopf grösser waren als sie, über die Förderplattform zu kommandieren. Doch nun, da sie erneut in dem alten Flugzeug saß, fragte sie sich, ob sie das wirklich wollte. Irgendwie machte ihr der Gedanke Angst, in einem Glasturm eingesperrt zu sein, gleich einer Laborratte die halbe Zeit von einem nervtötenden Chef beobachtet zu werden und schließlich, nach langen – und vor allem langweiligen – Jahren von der Ratte selbst zu einer ebenso nervtötenden Chefin zu mutieren und sich noch weiter im eintönigen Bürolabyrinth zu verirren. Nein, wenn Yelena ganz ehrlich zu sich selbst war, wollte sie das nicht; sie mochte ihr Leben hier draußen, die rauen Sitten und manchmal gar die kuriosen Typen, die sogar am Jahresende mehr über Lenin als Väterchen Frost schwafelten, und vielleicht war es für sie an der Zeit, sich endlich einzugestehen, dass es ihr hier wirklich gefiel, dass sie hierhin gehörte. Mit einem genervten Seufzen öffnete sie die Türe des kleinen Klos und schritt zurück zu ihrem Platz.
Mittlerweile war die Dunkelheit über der Tundra hereingebrochen, über die sie noch immer flogen. Nichts war mehr zu erkennen, keine Lichter oder Siedlungen, kein Anzeichen von Zivilisation. Yelena kramte ihre Reisetasche hervor, um das Buch zu verstauen, bevor sie endlich landen würden. Sie konnte bereits fühlen, wie sich die Nase des alten Flugzeugs nach vorne neigte, als der Pilot mit dem Landeanflug begann. Sie lehnte sich wieder zurück und wartete geduldig während sie das Gefühl hatte, bereits zu spüren, wie der Boden immer näher kam. Bevor sie jedoch weiter über ihre Vorsätze grübeln konnte, erlosch die Kabinenbeleuchtung und die Motoren gaben für einige Augenblicke ein stotterndes Geräusch von sich, bevor die Propeller wieder normal drehten. Als Ingenieurin wusste Yelena, dass es kein Problem geben konnte, wenn bloß die Stromversorgung der Kabine hinüber war, doch das Geräusch der Motoren hatte sie beunruhigt. Einige der wenigen anderen Passagiere schienen sich ebenfalls zu bewegen und sie konnte durch die Stille das Klicken von einrastenden Sicherheitsgurten hören. Yelena wusste, dass ihre Chancen, nicht abzustürzen, sehr groß waren und das selbst wenn die Maschinen ganz ausfielen, bevor es am Boden war, noch eine fifty-fifty-Chance bestand, dass sie die Sache einigermaßen heil überlebte. Trotzdem sah sie vor ihrem geistigen Auge bereits die Einzelteile der Turboprop-Maschine über den vom Permafrost gehärteten Boden verteilt. Um sich von ihrer Unruhe abzulenken, wandte sie sich wieder ihren Überlegungen zu und kam innert Sekunden zu dem Entschluss, dass neue Vorsätze hermussten. Sie wollte sich nicht länger belügen, sondern endlich an den Punkt kommen, an welchem sie ehrlich zu sich selbst war. Noch war das Jahr jung, noch war es Zeit, einzusehen, dass sie sich nicht vornehmen musste, in einem Büro sitzen zu wollen sondern sich einen Blumentopf in die Baracke zu stellen, welche den Großteil dieses Jahres ihr Zuhause sein würde. Und während das Flugzeug sicher landete, wusste Yelena, dass dieses Jahr für sie trotz Wirtschaftskrisen, Terroristen und Kriegen und dem ewig gleichbleibenden Job tatsächlich das Potential dazu hatte, anders zu werden.