Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Es ist Spätsommer und bitterkalt. Ich scherze nicht, denn nur unter Bemühung all meiner Willenskraft kann ich meinen Körper dazu bringen, nicht gewaltsam zu erzittern. Der Schmerz lässt nach, viel langsamer als der Sommer und ich bin wieder einmal an diesem Punkt angelangt, der verschwommen zwischen Realität und Fantasie existiert. Ich ahne, dass ich diesen Moment schon oft erlebt habe. Mehr als eine vage Erinnerung an das, was ich jetzt empfinde, schon tausendmal empfunden habe, bleibt mir aber nicht. Die Kälte, die mir in den Knochen sitzt, beginnt endlich zu wirken, reißt mich Stück für Stück aus dem Delirium. In wenigen Minuten wird die Sonne aufgehen und das klare Licht der Dämmerung mit gleissenden, orangen Strahlen vertreiben. Ich sollte aufstehen, vor dem Glühen flüchten, bevor es zu spät ist und es meinen Schädel zerreißt. Doch ich bleibe auf dem regennassen Gestein sitzen, lausche den Wellen und vergesse, an was ich mich ohnehin nicht erinnern will.
„Willst du nicht etwas essen?“ Er sieht mich erwartungsvoll an, kratzt dabei seinen Dreitagebart und seufzt, als ich heiser verneine.
„Tut mir leid“, krächze ich. „Ich habe keinen Appetit.“
Er nickt, schenkt mir einen mitfühlenden Blick. Ich mache mir seit Tagen nicht mehr vor, dass es nicht offensichtlich ist. Meine Augen sind tief eingesunken, umrandet von Dunkelviolett und aschfahler Haut.
„Kann ich etwas für dich tun?“ In seiner Stimme erkenne ich aufrichtige Sorge, also verziehe ich meine Mundwinkel zu einem gespielten Lächeln.
„Nein, ich komme klar.“ Das tue ich nicht, aber ich werde es in ein paar Stunden, Tagen oder Monaten – irgendwann.
„Sicher?“
„Ja, wird schon werden. Ich muss bloß ein wenig schlafen.“ Die Wahrheit, wenn auch nicht die ganze.
Wie schon oft zuvor frage ich mich, ob es anders wäre, wenn ich nicht alleine hier sässe – alleine mit den Möwen und dem Meer. Ich weiß nicht, ob die Antwort darauf immer dieselbe war, heute lautet sie „Nein“. Erste Lichtkegel blinzeln über den Horizont und Angst steigt in mir auf. Ach, könnte ich nur für Wolken beten, doch dazu ist mein Geist noch zu wach – vielleicht morgen. Die rhythmischen Stiche sind dumpfem Pochen gewichen, das macht es nicht besser, aber zumindest anders. Etwas in mir versteht, dass die Retrospektive nicht mehr lange auf sich warten lässt. Bald wird es vorbei sein und die Qual wird zur winzigen Tropfen im Ozean, nur leider bald und nicht gestern. Oder war es vorgestern? Letzte Woche? Da sitze ich in der Zeitmaschine des Lebens, die jede Minute eine Minute in die Zukunft führt, und habe keinen Sinn für dieses biegsame Gesetz. „Bald“, flüstere ich mir stumm zu. „Bald“, das muss ausreichen.
„Wie lange diesmal?“, will er wissen und ich schaue auf die Uhr, die mir seit Jahren nichts mehr sagt.
„Zwei oder drei Tage, ich bin nicht sicher.“ Er schließt die Lider, atmet aus, dann setzt er sich dicht neben mich. Wie kann ein Mensch so viel Hitze abgeben, sinniere ich, während die Wärme an mir gefriert.
„Wieso nimmst du nicht die Tabletten, die der Arzt dir gegeben hat?“ Ich bin zu kaputt, um es erneut zu erklären, zu kaputt um es nicht zu tun.
„Ich habe die Schmerzmittel genommen.“ Danach das Bangen, ob er sich zufrieden geben wird.
„Davon spreche ich nicht“, zerschmettert er meine Hoffnung.
„Ich brauche Schlaf, nicht Ohnmacht.“ Er brummt etwas Unhörbares, zuckt mit den Schultern und erhebt sich. Die Hitze verschwindet mit ihm.
Die Schwingen der Möwen zischen scharf durch mein Blickfeld, alles andere bleibt dämmerig, spiegelt sich in sich selbst, bis jeder Umriss in einem anderen flackert. Vor- und zurückwippend versuche ich zu erfassen, wie weit der Weg nach Hause ist – mal scheint er kurz, mal nicht zu bewältigen. Weißblaue Blendenflecke tanzen und verscheuchen die Möwen aus meiner Wahrnehmung, genauso wie alles andere. Eine Weile will ich sie mit meinem Starren einfangen, doch die tobenden Lichter entwischen stets, finden keine Ruhe durch meinen Willen. Mein Leib ist schwer wie der Fels, in dem er zu versinken droht und ein zentimeterdicker Film aus Wachs schient mich zu überziehen. Alles, wirklich und wahrhaftig alles, ist so fern, wie es noch nie zuvor war – so fern, wie es jedes einzelne Mal ist. Ein heftiger Schlag bricht durch meine Stirn. Ich ächze, zähle Sterne und überrede meine Lungen, ihr Werk zu verrichten.
„Ich gebe dir noch eine Nacht.“ Er spricht stoisch, liebevoll – kein gutes Zeichen.
„Und dann? Willst du mich bewusstlos schlagen?“ Sarkasmus. Um jeden Preis will ich ihm zeigen, dass ich es bin, dass ich noch hier bin. Er muss es verstehen, muss es sehen, hören, fühlen. Ich bin hier, unter dem Schmerz, der Erschöpfung – da bin ich!
„Genau, das ist wohl die einzige Möglichkeit, dich ins Krankenhaus zu bringen.“ Vernunft. Wie ich sie hasse! Nicht immer, aber wenn, dann mit Leidenschaft.
„Die können auch nichts weiter tun, als mir Schlafmittel zu geben.“
„Mag sein, aber wenigstens können sie dich an den Tropf hängen.“ Zu diskutieren hat keinen Zweck, er hat Recht und wird es auch behalten.
„Eine Nacht, ja?“ Meine Kraft wird ausreichen, zumindest will ich das glauben, mein Wille wird siegen.
Die Sonne hat mich schon immer gehasst, sie gibt es jeden Tag aufs Neue zu. Welle um Welle bricht über den Strand hinein, unaufhörlich, ohne je ein Ende zu nehmen. Meine Marter wird es ihnen nicht gleichtun, wird bald, oh, bald, vorüber sein. Der Gedanke an das Vergessen in der Zukunft tröstet mich. Gleichermaßen ängstigt mich die schiere Vorstellung, dasselbe wieder und immer wieder zu erleben. Es ist eben doch wie die Wellen, nur lässt es mir dazwischen mehr Raum. Den Raum, in dem diese Folter bloß zum Nebel verblasst, wie das Summen eines längst verlorenen Wiegenliedes. Ich werde schlafen, davon bin ich überzeugt – dem Hunger, der Übelkeit, der Migräne, der Krämpfe zum Trotz. Ich werde schlafen, werde dieses Biest in mir in die Knie zwingen! Willenskraft, sagen sie, helfe nicht gegen Schmerz und Schlaflosigkeit. Sie lügen! Mein Wille wird mich zu Morpheus tragen!
Interessante Geschichte, auch wenn ich zugeben muss, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich sie tatsächlich verstanden habe…
Es ist auf alle Fälle faszinierend, dass Rahel zu einem Bild von Fairy ein Lateinischer Titel mit einem Schlaf gestörten Hauptcharakter einfällt… Habt ihr etwa unsere Beiträge vom Überarbeiten gelesen (besonders: 27. Juli 21:36)? :D
Ja, in der Tat…
Das ist ja fast gruselig O.O
;)
Hallo zusammen,
Da Rahel gerade sehr beschäftigt ist, hört ihr hier vorerst ein kurzes „Hallo“ von Sarah. Ich wollt nur sagen: Keine Bange, sie wird sich schon noch melden, aber wenn Verlagsdeadline, Podcast und Arbeit zusammenkommen, dauert es manchmal ein Bisschen :)
Liebe Grüsse von den Clue Writern,
Sarah
Heya ihr beiden.
Oh mein imaginäres Freundchen … Da entschuldigt mich Sarah so freundlich und was mache ich? Ich denke einfach nicht mehr daran, dass hier ja noch Kommentare auf mich warten. Gebt mir eine Sekunde, damit ich meinen Schädel aufs Keyboard knallen kann – Dummheit darf schliesslich auch etwas weh tun.
Okay, da das nun vom Tisch ist, schalte ich auf den Normal-Modus um.
Joa, das mit dem Verstehen ist immer so eine Sache. Als jemand, der seit Jahren mit Schlaflosigkeit lebt, kann ich allerdings bestätigen, dass die Gedankengänge spätestens nach Tag zwei etwas … Naja, sagen wir mal „abstrakter“ werden. Wie so vieles hat auch das Vor- und Nachteile ;)
Gruseln wollte ich euch mit der Themenwahl zwar nicht, aber sei’s drum, als Horror-Freund bin ich immer begeistert, wenn ich etwas fabriziere, das ein klein wenig creeptastic ist ;)
Mit verspäteten Grüssen und grandiotastischen Wünschen
Eure Clue Writer
Rahel