Schwer atmend kam Martin am nächsten Posten zu stehen, stützte die Hände auf die Oberschenkel und lauschte dem Vogelgezwitscher, das beinahe von seinem angestrengten Keuchen übertönt wurde. Vor einem Monat hatte er sich vorgenommen, jeden Samstagvormittag den Trimm-Dich-Pfad entlangzujoggen, und seither verfluchte er sich für jede Rauchpause, die er sich nicht hatte verkneifen können. Er wollte in Form bleiben, also absolvierte er alle Übungen auf der Route, wenn auch röchelnd. Vielleicht hätte er sich eine spaßigere Sportart aussuchen sollen, Tennis zum Beispiel. Der Tennisplatz läge zudem näher und wäre zeitsparender, als jede Woche in den Wald zu fahren. Unterdrückt fluchend stellte er fest, dass seine neuen weißen Turnschuhe voller Matsch waren, die Regengüsse der letzten Nacht hatten die Laufstrecke in eine Rutschbahn verwandelt. Martin nahm sich vor maximal eine Minute zu verschnaufen, ehe er sich ans Reck wagte. Er widerstand dem Drang, sich eine Fluppe anzustecken und beobachtete stattdessen den Wald, konzentrierte sich darauf, wie friedlich die Gegend war. Das komplette Gegenteil von dem hektischen Großraumbüro, in dem er die letzten fünf Tage verbracht hatte.
Wie aufs Stichwort wurde die Ruhe gestört, ein Mann in mittleren Jahren, der auf Martin wie ein Hippie wirkte, schlenderte herbei und winkte. „Hallo?“, sagte Martin verdutzt und musterte den Hinzukömmling.
„Ah, Städter auf dem Sportpfad“, lachte der andere und schüttelte seine verfilzte Mähne. „Es ist Wochenende, was? Ich bin übrigens Floyd.“
„Ja genau“, erwiderte Martin und hoffte, der andere wollte ihn nicht zum Tratsch einladen oder ihm seine Lebensgeschichte erzählen. Hauptsache, er käme rasch zu seinem entspannten Nachmittag und konnte auf der Couch etwas Far Cry zocken. „Martin, freut mich. Ist halt schön hier im Wald.“
„Absolut. Städter sind bloß oft heikel wegen der Insekten“, meinte der Fremde und machte eine vage Geste, die den ganzen Wald umfasste. „Alles lebt, mein Freund, einfach alles, Mücken, Bremsen, Heuschrecken! Solange keine Rieseninsekten rumschwirren, ist das kein Problem und wenn sie raukrabbeln, muss man eben schnell rennen.“
„Hä … Rieseninsekten?“ Verdattert sah Martin den Hippie an und grübelte, was dieser geraucht hatte. Ein kleiner, jung und rebellisch gebliebener Teil von ihm hätte auch mal wieder einen Zug inhaliert, schlussendlich war er dann doch zu vernünftig, Drogen nahm er schon lange nicht mehr, er konnte seinen Stress anders im Zaum halten, beispielsweise mit Sport. „Hier gibt es Rieseninsekten?“
„Naja, vor einem halben Jahr stand da eine alte Truhe auf der Lichtung.“ Floyd schaute ins Leere. „Berta hat sie aufgemacht und wurde von einer riesigen Gottesanbeterin gefressen. Ach Berta, wir in der Kommune vermissen dich alle, du warst unser Sonnenschein.“ Die Gesichtszüge des Hippies veränderten sich urplötzlich von traurig zu fröhlich, als er das Thema wechselte: „Wie auch immer, so ist das Leben. Und du, was machst du so?“
„Ich … äh“, Martin konnte den wirren Gedanken des anderen kaum folgen und überlegte kurz, ob dieser gefährlich war, verwarf die Befürchtung allerdings rasch. Floyd war nur ein Hippe, der durch den Wald tingelte und nach Marihuana roch, was in ihm wieder den Wunsch nach einem Joint weckte. Rasch rief er sich zur Ordnung und antwortete: „Ich bin im Marketing. Unsere Firma macht Werbung, TV-Spots, YouTube, so ein Kram halt. Du wohnst in einer Kommune?“
„Genau, genau“, nickte der Hippie und ergänzte: „Mach Werbung für diesen Wald, du kannst gerne mit mir ein Testimonial aufnehmen, dann kommen bestimmt mehr Touristen.“
Schmunzelnd wollte Martin wissen: „Möchtet ihr nicht eher weniger Touristen, damit eure Kommune Ruhe hat?“
„I wo“, wiegelte der Hippie ab, „das passt schon. Es ist immer schön, neue Menschen kennenzulernen. Plus, die Rieseninsekten fressen die Gäste, sind satt und verschonen uns. Prima, oder?“
„Ah, die Rieseninsekten, die habe ich ganz vergessen. Klingt mühsam“, stimmte Martin trocken zu. „Habt ihr Mückenspray probiert? Gibt sicher eine Bio-Variante davon.“
Floyd starrte ihn entrüstet an. „Solche Wunder der Natur umbringen? Niemals! Wir sind keine Monster!“
„Fressen oder gefressen werden, so ist Mutter Natur nun mal“, kommentierte Martin mit einem Schulterzucken, guckte betreten auf seine verdreckten Schuhe und gab schließlich seinem geheimen Wunsch nach. „Hey, hast du Gras?“
„Natürlich. Wir bauen Gras an, was glaubst du, wie wir zu unserem Geld kommen?“, prustete Floyd heiter glucksend. „Wie viel willst du?“
Martin kramte in seiner Hosentasche und brachte einen Zwanzig-Euro-Schein zum Vorschein. „So viel du mir dafür gibst. Hab meine Brieftasche im Wagen gelassen und nur den dabei.“
Floyd wühlte in seinem Jutebeutel und brachte eine kleine Tüte zum Vorschein. „Die da. Ist das gut so?“
„Klar, danke. Ich sollte wohl mal wieder Sport machen, sonst habe ich mir keinen Joint verdient.“
„Sicher – pass bloß auf wegen der Insekten, Mann. Der Geruch von Gras lockt die an.“
„Keine Bange, werde ich.“ Martin wurde nicht schlau aus seinem Gegenüber, tja nun, musste er auch nicht.
„Nun“, Floyd streckte sich gähnend. „Ich muss mal weiter, sonst komme ich nicht rechtzeitig zum Markt ins Dorf. Man sieht sich, Martin.“
„Außer die Insekten erwischen mich“, witzelte dieser. Er hob zum Abschied die Hand, steckte den Beutel Marihuana in seine Jogginghose und begann sich zu dehnen, um endlich mit seinem Sportprogramm weiterzukommen. Ein wenig schuldig fühlte er sich schon, hatte er der Versuchung nachgegeben und Gras gekauft. Entgegen dem Rat des kuriosen Kerls hielt er inne, öffnete die Tüte und roch an dem guten Stoff. Unzählige Erinnerungen an seine Jugend überkamen ihn, sein Studium, dass er zur Hälfte bekifft verbracht hatte. „Noch nicht“, brummte er und fügte sogleich hinzu: „Sonst greifen sicher Monsterameisen an!“
Mit neuer Disziplin ging er unter dem Reck in Position. Der Hippie war ein Wink des Schicksals gewesen und ein wenig Gras würde ihm nicht schaden. Hauptsache, das Zeug gab ihm keine Halluzinationen von Monsterinsekten, dachte sich Martin grinsend und hielt inne. Hinter ihm im Unterholz knackte es seltsam. „Mehr Hippies?“, brummte er amüsiert, wandte sich um und warf sich im letzten Moment zu Boden, als eine mannshohe Gottesanbeterin über ihn wegsprang. Entsetzt hob er den Kopf, wischte sich den Matsch aus den Augen und versuchte, den Angreifer zu finden. Sein Herz sprang ihm beinahe aus der Brust, nie zuvor hatte er solche Angst gehabt, da entdeckte er die Bestie und rappelte sich ächzend auf. Sie hatte kein Interesse mehr an ihm und rannte den Weg hinunter, den Floyd genommen hatte – offenbar war sie auf der Fährte des Hippies. „Heilige Kacke“, flüsterte Martin, „die Dinger sind real?“ Ohne zu zögern drehte er sich um und sprintete den Trimm-Dich-Pfad entlang zurück zu seinem Wagen. Sollte er diesen verrückten Wald überleben, wollte er es bei leichtem Jogging im Stadtpark belassen. Da kackten einem die Tauben auf den Kopf, statt ihn gleich abzureißen.