Dies ist der 5. Teil der Fortsetzungsgeschichte „Hoffe auf das Beste, aber bereite dich auf das Schlimmste vor“.
Die letzten vier Tage, die sie auf der Farm verbracht hatten, waren wunderbar gewesen und am Morgen des Aufbruchs, hatte sich Tess wie neu geboren gefühlt. Sie hatte nicht nur in einem richtigen Bett schlafen können, ein Luxus, den sie früher nie zu schätzen gewusst hatte, sondern sie hatte sich auch einigermaßen sicher gefühlt und war in den Nächten nur ein- bis zweimal erschrocken aufgewacht. Natürlich konnte auch das gemütlichste Bett ihre Alpträume nicht vertreiben, aber so war es nun halt in dieser grotesken Zombie-Welt; niemand schlief ohne böse Träume und während man früher vielleicht mit einer Liebesnovelle in der Hand eingeschlafen war, hielt man heute eben eine geladene und entsicherte Waffe nahe bei sich.
Die kurze Zeit auf der Farm hatte Tess die Gelegenheit gegeben ihre Gefährten etwas besser kennenzulernen und ihre Besorgnis über Jacks Wohlergehen etwas vermindert. Der Kleine war wirklich hart im Nehmen, das hatte sie spätestens dann erkannt, als sie im Getreidelager die verrottenden Überreste des Farmers gefunden hatten. Jack war der einzige von ihnen gewesen, der sich beim Anblick der Leiche nicht beinahe übergeben hatte und nachdem er dem Farmer den Revolver aus der Hand genommen und eine Wolldecke über ihn gelegt hatte, hatte er mit einem gutmütigen Lächeln gesagt: „Ich hoffe, du bist glücklich im Himmel und triffst mein Meerschweinchen.“ Danach hatte er Clint die Waffe gegeben und sich nach dem Mittagessen erkundigt. „Oma, kannst du mit dem Eis auf dem Weiher Sorbet machen?“ – Kinder sind wirklich unheimlich anpassungsfähig.
Ja, die Tage auf der Farm waren für sie alle eine Wohltat gewesen und insbesondere Barbara, deren Alter man sich nicht immer bewusst war, schien die Erholung wirklich dringend nötig gehabt zu haben. Doch irgendwann, das war ihnen klar, mussten sie weiterziehen. Schlussendlich war es Clint gewesen, dem es gestern Abend unter den Nägeln zu brennen begann und der die kleine Gruppe davon überzeugt hatte, sich in der Früh auf den Weg zu machen.
„Nun mach schon“, nörgelte Barbara ungeduldig, während Jack hinter ihr Grimassen zog und Clints scheuer Blase damit einen weiteren Grund gab, Zicken zu machen. „Ich kann nicht“, murrte der junge Mann und zog den Reissverschluss seiner Hose wieder hoch, bevor er fortfuhr: „Ich muss schon seit Nightvale, wollte aber nicht unnötig Flüssigkeit verschwenden, also wird das ganze sowieso kein angenehmes Erlebnis, auch ohne euch Nervensägen.“ Er verdrehte die Augen und streckte dem Jungen die Zunge raus, bevor er mit gezogenem Gewehr im Unterholz verschwand, um sich in Ruhe erleichtern zu können. „Du bist ein Pisser!“, schrie ihm Jack etwas übermütig und kichernd hinterher und fühlte sich von Tess‘ Lachen ermutigt, ignorierte aber absichtlich den verärgerten Blick seiner Großmutter. „Also wirklich“, sagte Barbara schließlich kopfschüttelnd und stupste die noch immer breit grinsende Tess in die Rippen.
Clint hatte indes eine kleine Holzhütte am Wegrand gefunden und war dahinter in Deckung gegangen. Forschend sah er sich um und verweilte einige Sekunden regungslos, damit er die Geräusche des Waldes zuordnen konnte. Er wollte auf keinen Fall mit heruntergelassener Hose von so einem Ding angegriffen werden, dachte er sich, schob diese beängstigende Überlegung aber sofort beiseite und stellte sich, nachdem er außer dem Wind und dem hämischen Gelächter der anderen nichts gehört hatte, vor die mit Spinnweben verklebte Wand. Wie zu erwarten gewesen war, brannte das Wasserlassen und gerade als Clint sich darüber beschweren wollte, hörte er ein dumpfes Poltern, bevor eine tiefe Männerstimme leise sagte: „Keine Bewegung!“
„Wie lange können wir auf diesem Waldweg bleiben?“, erkundigte sich Barbara zum wiederholten Mal bei Tess, welche langsam aber sicher vermutete, dass die ständige Fragerei wohl daher rührte, dass der alten Dame die Steigung des Wanderwegs zu heftig wurde. „Wenn wir diese Anhöhe hinter uns haben“, begann sie und zeigte mit ihrem behandschuhten Finger auf einen im Wald verschwindenden Hügel, „können wir dem Weg ins Tal folgen und von dort auf Nebenstraßen weitergehen. Wenn wir Glück haben, ist die Straße frei genug, so dass wir mit einem Auto weiterreisen können.“ Barbara atmete erleichtert aus und war der Jüngeren dankbar, dass sie ihre sichtbare Erschöpfung nicht angesprochen hatte. Sie wusste, dass ihr Alter mit ein Grund gewesen war, weshalb Tess sie anfangs nicht hatte mitnehmen wollen und es war ihr unangenehm, dass sie als einzige mit dem unwegsamen Gelände zu kämpfen hatte und sogar ihren Rucksack an Clint hatte abgeben müssen.
„Wir sind alle froh, wenn wir im Auto sitzen“, sagte Tess mit einem Schulterklopfen und nahm einen kleinen Schluck aus ihrer Wasserflasche, bevor sie das Thema wechselte und sich darüber mokierte, wie lange ihr Kumpel nun schon in den Büschen war.
Clint starrte paralysiert auf den dunklen Fleck, der den staubgrauen Beton, welcher als Fundament für die schäbige Holzhütte diente, dort zierte, wo er hingepinkelt hatte. Kurz nachdem ihm befohlen wurde, sich nicht zu bewegen, hatte er den Lauf eines großkalibrigen Gewehrs entdeckt, welcher unter einer geblümten Gardine hervorlugte und genau im richtigen Winkel für einen Kopfschuss angesetzt worden war. „Was wollen sie?“, brachte er schließlich hervor und war erstaunt, wie fest seine Stimme klang, angesichts der Tatsache, dass er mit offenem Hosenstall dastand und nun direkt in ein Mündungsrohr blickte. „Wie bitte?“, stieß der Fremde empört hervor, ehe er etwas Unverständliches murmelte. „Das sollten wir dich fragen“, lautete seine verzögerte Antwort, die Clints Verdacht, dass sich mehrere Personen in der Hütte aufhielten, bestätigte.
„Sag mal, liest du dort hinten die Tageszeitung?“, schrie Tess, der das Warten mittlerweile zu blöd geworden war und löste damit unwissend eine nervöse Reaktion des Unbekannten hervor, der die Waffe hart an Clints Schläfe stieß. Dieser hob sein bestes Stück vergessend sofort die Hände in die Luft und beteuerte stammelnd, dass er keine bösen Absichten verfolgen würde. „Ich wollte doch nur in Ruhe pissen!“ Eine Weile blieb alles still, bis der Fremde, dessen Gesicht noch immer hinter den Gardinen verborgen blieb, die Flinte langsam etwas wegzog und dann flüsterte: „Sag ihnen, dass alles in Ordnung ist und pack deinen Schwanz ein, das ist ja nicht zum aushalten.“ Clint folgte dem Befehl nur zu gerne, zog den Reissverschluss hoch, räusperte sich und brüllte so gelassen er konnte: „Ach halt die Klappe, Mia.“
„Mia?“ Barbara und Tess sahen sich erschrocken in die Augen und während Tess ihre Gewehr, welches an einem Lederriemen über ihrem Rucksack hing, griff, deutete Barbara ihrem Enkel zu ihr zu kommen und ging mit ihm hinter einer kleinen Baumgruppe, die auf der anderen Seite des Waldwegs stand, in Deckung. Tess nickte in ihre Richtung und ließ ihren Rucksack geräuschlos zu Boden gleiten. „Lass dir nicht ewig Zeit, sonst gehen wir ohne dich weiter“, sagte sie möglichst beiläufig, bevor sie sich unter dem Gestrüpp, hinter dem sie Clint vermutete, hinwegduckte. Sie wusste, dass irgendetwas nicht stimmte, wenn Clint sie mit dem falschen Namen ansprach und es war ihr auch klar, dass es keines dieser Dinger hatte sein können, sondern etwas viel gefährlicheres. Sie hatten schon mehrmals darüber gesprochen und sich darauf geeinigt, dass es ratsam wäre, sich von anderen Menschen fernzuhalten. In einer extremen Situation wie dieser, konnte man sich nie sicher sein, zu welchen Taten jemand fähig wäre; die Ressourcen waren knapp und vor allem nur mit großem Aufwand zu bekommen und es gab keinen Staat und keine Polizei mehr, die Gesetz und Ordnung durchsetzen würden.
Das graue Laub, welches im letzten Herbst nicht abgefallen war, raschelte leise und kaum hatte Tess ihren Stiefel auf den feuchten Boden hinter der Hecke gesetzt, sah sie eine rothaarige Frau, die sie mit einer blitzblank geputzten Winchester und einem auf die Lippen gelegten Zeigefinger zum Schweigen anhielt. „Wie viele seid ihr?“, wollte sie dann heiser wissen und Tess überlegte nicht lange, bevor sie ihr Gegenüber anlog. „Zwei Männer sind vorne auf dem Waldweg, acht weitere aus unserer Gruppe sind dicht auf unterwegs.“