Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Diese Kurzgeschichte erschien im Rahmen der achten Clue Writing Challenge.
Walter seufzte frustriert und fuhr sich durchs Haar. Er unterdrückte den Wunsch, seinen Controller in den 240-Hertz-Flatscreen zu pfeffern, das wäre ein zu teurer Wutausbruch. Gegen einen bedeutend schlechteren Spieler zu verlieren und aus reinem Pech Zweiter zu werden, war für den erfahrenen Battle-Royale-Krieger eine besonders bittere Niederlage. Das Klingeln seines Handys hielt ihn davon ab, den nächsten Match zu starten, also fischte er das Telefon aus der Hosentasche und linste kurz aufs Display: Wie erwartet stand der Name „Rita“ über dem Anrufsymbol. Er zog das Gaming-Headset aus, nahm gleichzeitig den Anruf an und versuchte, den Lautsprecher des Handys einzuschalten. Natürlich verhedderte sich dabei das Headsetkabel um seinen Arm und die Kopfhörer krachten unsanft auf die Tischplatte, ehe sie auf dem Boden landeten. „Mist, verdammter … Hallo Mom.“
Rita lachte herzhaft. „Walter, was machst du bloß wieder?“
„Lange Geschichte“, wiegelte er ab, unterbrach sich und atmete tief durch. „Wie geht’s dir?“
„Ganz gut, ganz gut. Ich habe vorhin mit der Ilse Kaffee … ach, egal, das Kuchenessen von uns alten Schachteln fändest du bestimmt langweilig. Ich wollte eigentlich nur fragen, ob du heute Nachmittag im Büro bist?“
Walter kannte seine Mutter gut genug, um zu wissen, was als nächstes kommen musste. „Lass mich raten: Du brauchst Kugelschreiber?“
„Ja, meine sind alle leer. Kannst du mir welche klau… ich meine, mitbringen?“
„Das mache ich gern, ich werfe sie dir auf dem Nachhauseweg in den Briefkasten. Ist ja Freitag, so hast du sie am Wochenende.“ Er pausierte kurz und log dann: „Ich sollte mal los, die Arbeit ruft.“
„Klar, wir sehen uns. Hab einen schönen Tag.“
„Danke, du auch.“ Damit legte Walter das Handy weg und startete einen neuen Match. Ein wenig plagte ihn das schlechte Gewissen, wobei er sich nach dieser Runde tatsächlich auf den Weg machen musste, um vom Online-Krieger zum Buchhalter zu werden. „Okay, jetzt zeigen wir denen mal, was eine Harke ist, diesmal gibt’s keine Gnade!“
Zufrieden lehnte sich Walter auf dem Bürostuhl zurück und rollte zum Aktenschrank, wo er die letzten Dokumente für heute ablegte. Bald wäre Feierabend. Nach einigen ungeschickten Handgriffen gab er es auf den Schrank sitzend einzuräumen zu wollen, auf und erhob sich. Damit beschäftigt, die Unterlagen zu sortieren, grübelte er über diverse Taktiken, wie er in seinem Lieblingsgame mit mehr Kills zum Sieg kommen könnte. Die Tage hatte er oft nachlässig gespielt, was er fast ärgerlicher fand, als seine berufliche Schludrigkeit. So hatte er kürzlich beinahe versemmelt, seinem wichtigsten Kunden eine Mail zu schreiben. Eine echte Schande für den jungen Buchhalter, für den es Ehrensache war, seine Aufgaben mit Präzision und Ehrgeiz zu lösen, solche Dinge nagten jeweils lange an seinem Ego. Mehr in seinem Hobby als in seinem Job, verstand sich, wo er sich etwas öfter aufraffen musste. Versagen war trotzdem keine Option, nur darüber nachdenken würde er erst wieder m Montag. Voller Elan schob er einen Ordner in den Schrank, knallte die Tür schwungvoll zu und wandte sich um. „Fertig“, stellte er zufrieden fest und ermahnte sich: „Genau, Kugelschreiber klauen.“ Erleichtert, sich an den Wunsch seiner Mutter erinnert zu haben, ging er zum Schränkchen mit dem Büromaterial, kramte eine Handvoll Kugelschreiber heraus und steckte sie in sie in seine abgegriffene Aktentasche. Auch in seinen Dreißigern gab es für Walter nichts schlimmeres, als eine enttäuschte Mutter, weshalb er gleich noch einige Filzstifte in seinem Sakko verschwinden ließ. „Nun denn, auf nach Hause!“
Da klopfte es an der Tür und die Abteilungsleiterin, Frau Isler, betrat sein Büro und zerstörte seine Hoffnung auf einen frühen Abgang ins Wochenende. Na, wenigstens hatte sie ihn nicht beim Klauen ertappt.
„Herr Burkhalter, gut sind Sie noch da“, keuchte Frau Isler, die offenbar den ganzen Weg aus dem Ostflügel gejoggt war. „Es tut mir leid, Sie aufzuhalten, aber ich benötige unbedingt Ihre Hilfe.“
„Selbstverständlich, Frau Isler“, meinte Walter und stellte seine Aktentasche ab. Insgeheim fürchtete er eine Nachtschicht auf sich zukommen, um irgendeinen Flüchtigkeitsfehler auszubügeln. In letzter Zeit war er zu unkonzentriert, dachte er und nahm sich vor, genauso an seiner Arbeitsmoral zu arbeiten, wie an seiner Kill-Death-Ratio. Hoffentlich war es nichts Schlimmes, darüber würde er sich mehr aufregen, als angebracht war, dachte er angespannt. Sie hatte doch nicht am Ende das mit den Kugelschreibern herausgefunden? Das wäre unglaublich peinlich. „Was ist das Problem?“
„Nun ja“, begann Frau Isler und kratzte sich verlegen am Kinn. „Ich brauche Ihre Expertise. Nach meinem Wissensstand sind Sie der Beste hier.“
„Der Beste in was?“ Walter grübelte, was auf ihn zukam. Sicher, er war gut in seinem Job, nur gab es viele Buchhalter hier, die mehr Berufserfahrung hatten, er selbst hatte in dieser Firma erst vor drei Monaten begonnen. Die Chefin hatte ihm noch nicht einmal das „Du“ angeboten, obschon sie ihn bereits auf Facebook hinzugefügt hatte.
„Also“, druckste Frau Isler, „mein Problem hat nicht wirklich etwas mit der Arbeit zu tun …“
Insgeheim wünschte er sich, endlich zu wissen, was Sache war, er wollte ins Wochenende aufbrechen und die geklauten Kugelschreiber bei seiner Mutter abliefern. Andererseits hatte ihn Frau Isler endgültig neugierig gemacht, immerhin war sie sonst sehr reserviert und professionell.
„Nun ja“, begann Frau Isler. „Sie kennen sich ja mit Battle Royale Games aus, wenn man Facebook glauben will. Und ich brauche jemanden, der mir ein paar Tipps geben könnte, ich bin ein totaler Noob.“