Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Mitten in der Nacht, kurz nach drei Uhr um genau zu sein, wurden sie von einer blechern klingenden Sirene geweckt. Wahrscheinlich hatte zu Beginn keiner gewusst, was vor sich ging. Selbst die Wärter waren mit gerunzelter Stirn durch die Gänge gerannt, bevor sie aufgebracht murmelnd in die Stationszimmer eilten. Das Geheul verstummte nach wenigen Minuten. Erik und sein Zellengenosse Hektor starrten noch eine Weile durch das kleine Fensterchen in den Flur hinaus, zuckten dann fast zeitgleich mit den Schultern und einigten sich darauf, dass es wohl ein Fehlalarm gewesen sein musste. Trotzdem wurde Erik das ungute Gefühl, etwas Fürchterliches könnte sich abspielen, nicht los. Mit einem ekligen Kloss im Hals blieb er an der Tür stehen und winkte ab, als Hektor ihn fragte, wieso er sich nicht wieder schlafenlegte.
Eine knappe halbe Stunde später, Hektor schnarchte bereits, flackerte die Nachtbeleuchtung, das Geräusch hastiger Schritte hallte durch die ansonsten totenstille Haftanstalt und ein Aufseher sprintete in Richtung der Sicherheitsschleuse.
„Oy“, zischte Erik. „Oy, Hektor.“ Der Angesprochene grunzte schläfrig und abrupt war es zappenduster, sogar die Notlichter waren erloschen. „Hektor!“ Erik tastete nach dem Lichtschalter, da passierte es: Die Zellentür sprang auf. „Ach du Scheiße“, nuschelte er und hielt Hektor, der sich gähnend rauslehnte, an den Schultern zurück. „Warte!“
„Wind“, entgegnete dieser ungläubig, streckte die Hand aus der Tür und bestätigte: „Wind! Die Schleuse ist offen.“ Verwaschenes Raunen drang zu ihnen, offenbar waren Leute im Hof, womöglich die Sicherheitsbeamten.
„Was ist los?“ Langsam brach Unruhe unter den Gefangenen aus. „Alter, es ist aufgesperrt!“, meinte einer, vermutlich war es John. In jedem anderen Gefängniskomplex wäre blitzartig das pure Chaos ausgebrochen. Nicht hier. Wer im Westflügel saß, war seit mindestens einer Dekade im Todestrakt und die meisten hatten sich damit abgefunden, niemals in die Außenwelt zurückzukehren. Niemand wollte für einen mitternächtlichen Spaziergang auf dem Korridor seine Privilegien verspielen, auch wenn man in ihren Räumen gerademal ein Maßband ausrollen konnte, waren sie dennoch komfortabler als die Plätze im Gemeinschaftsschlafsaal. Also gab es statt Freudentaumel oder Schlägereien bloß John, der verhalten rief: „Hallo? Hallo, Wärter?“ Keine Antwort.
Zögerlich traten die sechs zum Tode Verurteilten aus ihren Zellen, verweilten unschlüssig davor, schauten sich um, ob sie einen der Beamten entdeckten. „Mir reicht es“, maulte Fabrizio, Johns Mitbewohner, marschierte über den dunklen Flur und ging durch die Sicherheitsschleuse. Erneut hoben Erik und Hektor simultan ratlos die Schultern und folgten ihm raus auf den Gefängnishof.
Nach der beinahe totalen Schwärze im Zellentrakt blendete sie selbst das schwache Strahlen des Mondes und die roten Leuchtdioden der Überwachungskameras. Als jäh die Flutlichter angingen, taumelte Erik desorientiert zur Seite. „Au!“, jaulte er und klammerte sich an Hektors Arm, der ihn unwirsch abschüttelte.
„Pass auf, wo du hinläu…“ Er hielt inne und ächzte: „Nein!“
Erik blinzelte angestrengt, bis sich das grellweiße Flimmern vor seinen Augen legte und er verstand, was Hektor alarmiert hatte. „Ach du Scheiße!“, stieß er aus und wurde von einer Durchsage unterbrochen:
„Durchlauf Vierunddreißig. Testsubjekte W02a, Todestrakt.“ Ein Rabe flog auf, verlor dabei eine seiner Federn, die auf der dünnen Schneeschicht im Hof landete. Auf dem pulvrigen Weiß waren etliche Spuren zu erkennen, die allesamt zum Durchgangstor im Süden führten. Dahinter standen sie, regungs- und ausdruckslos.
„Hektor“, flüsterte Erik, stellte sich dann dichter neben seinen langjährigen Freund. „Was geht hier vor sich? Wer ist das?“ Sie trugen hellbraune Kittel, darüber die Schutzausrüstung, die normalerweise nur bei Aufständen zum Einsatz kam.
„Was weiß ich“, erwiderte Hektor und grölte anschließend: „Was soll das?!“
Erik zupfte am Ärmel seines Zellengenossen, deutete zu den Wachtürmen, auf denen nicht wie üblich die altbekannten Aufseher, sondern bewaffnete Soldaten stationiert waren und sie anvisierten. „Sei still!“
„Gefangene Nyvall, Freden, Brennan, Herrez, Brown und Burkhardt.“ Die Stimme schmetterte über die veraltete Lautsprecheranlage des Gefängnisses. „Ich muss Sie darüber in Kenntnis setzen, dass es zu einer Kontamination gekommen ist. Im Zuge des Notrechts wurden Sie ausgewählt, Ihrem Land zu dienen.“
„Meinem Land zu dienen?“, plärrte Fabrizio, während sie instinktiv zusammenrückten. „Spinnt ihr Arschlö…“
„Ihr Opfer wird in Ehren gehalten.“
„Opfer“, wiederholte Hektor. „Welches Opfer?“
„Welche Ehre?“, warf John ein und tatsächlich gelang es ihm damit, den anderen Insassen ein müdes Lachen abzuringen. So gerne sie es geglaubt hätten, Menschen wie sie es waren, hatten jede Chance auf Ehre eingebüßt. Sie waren der Abschaum, der Bodensatz der Gesellschaft, eine unumstößliche Tatsache, die sie alle zu akzeptieren gelernt hatten. Nachdem was sie getan hatten, das war ihnen klar, scherte sich keiner mehr um sie. Sogar ihre Familien hatten sie aufgegeben, ihr Postfach blieb leer, egal wie oft sie nach Hause schrieben.
„Möge Gott mit Ihnen sein“, tönte es, Worte, die Erik erschaudern ließen, da fiel Hektor direkt neben ihm zu Boden, krächzte und strampelte unter einer dünnen Bestie, die aus dem Nichts aufgetaucht war.
„Hektor!“, jaulte Erik, wollte das Ding von dem anderen herunterzerren, doch kaum hatte er es berührt, löste es sich in Luft auf. „Verdammte Scheiße, was war das?“ Hektor lag mit weit aufgerissenem Mund leblos auf dem Schnee, egal wie fest Erik an ihm rüttelte, sein Freund war längst tot. Unnatürlich schnell wich jede Wärme aus seiner Haut, seine Lippen verfärbten sich moosgrün. Die Uniformierten auf den Wachtürmen blickten auf sie herab, hinter den brennenden Scheinwerfern konnte er sie schlecht ausmachen, allerdings zitterten einige von ihnen, hatten Mühe, ihre Waffen auf sie gerichtet zu halten.
„Was war das?!“, brüllte Erik, als er John keuchen hörte. Fabrizio kippte nach vorne, keine zwei Sekunden später sackte John auf der Schwelle zum Zellentrakt zusammen, über ihm thronte das schauerliche Wesen, Erik sah, wie es in seinem stumm schreienden Mund verschwand. Die beiden anderen Häftlinge, Burkhardt und Brown, preschten an ihm vorbei, hechteten regelrecht auf das Südtor zu, wo die Männer und Frauen in ihren Kitteln weiterhin mit neutraler Miene das Schauspiel beobachteten.
Verängstigt kauerte Erik bei Hektors Leiche, umfasste dessen Ellenbogen und versuchte, ihn in Sicherheit zu schleifen. Zwar wusste er weder wo und ob es überhaupt einen sicheren Ort gab, nicht einmal, weshalb und vor was er den Toten retten wollte, aber er hatte das dringende Bedürfnis, irgendetwas zu tun.
Plötzlich schluchzte Burkhardt wie von Sinnen, stolperte über Brown, der ausgestreckt vor dem Zaun lag und röchelte. Ein dürres, grünes Biest kletterte aus seinem Schlund empor, krallte sich mit knöchernen Klauen an Burkhardts Gesicht, ehe es von ihm ebenfalls Besitz ergriff.
„Was ist das?!“, kreischte Erik, fuhr hoch und fixierte die Unbekannten hinter dem Tor. Indes wuchs eine moosgrüne Substanz aus Hektors Augenhöhlen, umschlang erst seine Wangen, seinen Hals, seine Brust, schließlich über seine Oberarme und spross über seinen Körper hinaus, schien im Schnee Wurzeln zu schlagen. „WAS IST DAS?!“
„Durchlauf Vierunddreißig mit Testsubjekten W02a, Todestrakt, abgeschlossen.“ Die Leute wandten sich ab, eine der Wucherungen glitt zu Erik, rankte an seinem Bein empor und kroch in ihn hinein, stieß in sein Innerstes vor.