Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Der Held dieser Geschichte ist ein ganz besonderer Hase namens Wilbur. Natürlich wusste Wilbur nicht, dass er ein Hase ist und hätte er es gewusst, dann wäre es ihm wohl überflüssig erschienen, sich als Hase zu identifizieren, denn seit jenem schicksalshaften Tag im heimischen Hasenbau hatte Wilbur weitaus wichtigere Dinge in seinem außergewöhnlichen Hasenhirn. Doch als Wilbur noch ein kleines, nacktes Häschen war, hatte niemand in der ganzen Wiesenlandschaft ahnen können, was für ein stolzer Rammler aus ihm werden würde; nein, man hätte wohl eher das Gegenteil vermutet, wenn man dem jungen Wilbur in die schwarzen Knopfaugen geblickt hatte. Er war ein außerordentlich schüchternes Häufchen Elend, der schwächste unter seinen Geschwistern und man hätte sagen können, dass er sogar für einen Hasen ein zu großer Feigling gewesen war. Manchmal, da saß er zitternd im hintersten Teil seines Kindernests, selig darauf wartend, dass sich seine verschlossenen Augen doch endlich öffnen würden und traute sich nicht, in der Dunkelheit nach seiner Mutter zu suchen. Die gute Häsin war natürlich sehr besorgt und ließ nichts unversucht, ihren Jüngsten zu umsorgen. Doch weder gutes Zureden noch unerhörte Fluchtiraden konnten Wilbur davon überzeugen, sich mehr zu wagen und irgendwann, gab die alte Häsin auf und ließ ihren Sprössling im hintersten aller Gänge des Baus, wo er sich die samtigen Pfötchen putzte und immer wieder zusammenzuckte, wenn er etwas vorbeihuschen hörte.
Am Morgen seines achtundzwanzigsten Tages, gerade als die anderen sich von ihm verabschiedet hatten um auf der Wiese zu spielen, hörte Wilbur ein lautes Scharren und wohlwissend, dass er nicht schnell genug entkommen würde, stellte er sich sofort tot. Der graue Junghase befürchtete, dass sein kleines Herz zerspringen würde, als er auf dem lehmigen Boden kauerte und darauf wartete, von etwas Monströsem gefressen zu werden, doch als er den mickrigen Maulwurf entdeckte, der sich direkt vor ihm aus der Erde grub, entwich ihm ein erleichtertes Quieken: „Oh, es ist nur ein Maulwurf!“ Der spitznasige Geselle drehte sich unerwartet um und kniff Wilbur grob in die Seite, so dass dieser zur Seite sprang und sich den Hasenkopf anstieß. „Was soll das heißen: ‚nur ein Maulwurf‘?!“, stieß der Neuankömmling empört aus, bevor er Wilbur seine Klauenpfote unter das Hasennäschen hielt. „Konrad Eichhorn ist mein Name und ich bin kein Maulwurf, ich bin ein Eichhörnchen.“, stellte der Winzling, der eindeutig ein Maulwurf war, fest und Wilbur schüttelte die kalte Pfote, bevor er zaghaft fragte: „Aber, du siehst nicht aus wie ein Eichhörnchen. Bist du sicher, dass du nicht doch ein Maulwurf bist?“ Konrad schüttelte vehement den Kopf, schnüffelte an einem vorbeikriechenden Regenwurm und verschlang ihn in einem Bissen, bevor er sich neben Wilbur setzte. „Ach Junge, der Schein trügt manchmal und wenn ich dir sage, dass ich ein Nussknacker bin, dann wirst du mir das glauben müssen.“ Wilbur war noch immer nicht überzeugt und beäugte seinen neuen Kameraden argwöhnisch, wollte sich aber geschlagen geben und nickte geschwind, um das verwirrende Thema zu beenden. Konrad aber kam erst jetzt in Fahrt und schritt mehrmals musternd um den jungen Feldhasen herum, bevor er sagte: „Du solltest wissen wovon ich spreche. Du bist ein Hase, der im Tunnel sitzt, anstelle davon mit den anderen Hasen auf der Wiese zu toben. Von uns zweien bist ist definitiv du der Maulwurf.“ Konrad lachte laut auf und klopfte Wilbur versöhnlich auf dessen mächtige Hinterhand, als er die beleidigte Hasenschnute sah. „Nana, gutes Häschen, das war doch nur Spaß.“
Doch Wilbur ließ sich nicht aufheitern und da Konrad ein freundliches Eichhörnchen war, das etwas für kleine Hasen übrig hatte, blieb er bei seinem neuen Freund sitzen und so kam es, dass sich die beiden tagelang unterhielten. Wilbur erzählte von seiner Angst vor der Dunkelheit und Konrad hörte erst einmal nur zu, bevor es ihm schlussendlich gelang, die richtigen Worte zu finden. „Aber Wilbur, wenn du Angst hast vor der Dunkelheit, wieso versteckst du dich hier unten, wo es doch draußen viel heller wäre?“ Wilbur ließ seine Löffel hängen, mümmelte gedankenverloren an einer knorrigen Wurzel und wollte so tun, als hätte er die Frage nicht gehört, denn es er wusste nicht, wie er darauf hätte antworten sollen. „Wilbur!“ Konrad klang böse und streckte sich soweit er konnte in die Höhe, um seinem Freund die Leviten zu lesen. „Du hast keine Angst vor der Dunkelheit, du versteckst dich hier vor dem, was du wirklich fürchtest, nämlich der unbekannten Welt und benutzt deine Angst als Ausrede.“ Wilbur horchte auf, schluckte den Kloß in seinem Hals herunter, schob den wild gestikulierenden Konrad zur Seite und tat das, was er am besten konnte: sich verteidigen.
„Du hast ja keine Ahnung wie gefährlich es da draußen ist, du warst ja noch nie dort. Wenn du nur wüsstest, was mir meine Brüder und Schwestern für schlimme Geschichten erzählen.“ Und wie immer, wenn Wilbur an die grausamen Gefahren der Wiese über ihm dachte, lief ihm ein kalter Schauer über den geschwungenen Rücken und sein weiches Hasenfell stellte sich auf. „Dort hat es Schwalben die so laut sind, dass es einem in den Hasenohren weh tut, Wildschweine, die achtlos über die Wiese rennen, Adler die sich kleine Häschen krallen und, das schlimmste von allem, haarlose Giganten, die dir mit langen Stäben das Fell über die Ohren ziehen. Wie also könnte ich sorgenfrei durch die Welt hoppeln, wenn ich von all dem weiß?“ Konrad seufzte mit geschlossenen Augen, schüttelte den Kopf und tätschelte Wilburs Schulter. „Ach Wilbur, ich kann dir nicht helfen. Es gibt so vieles, das du nicht weißt, nie selbst gesehen hast, weil du ein Brett vor dem Kopf hast und dich hier unten versteckst.“ Also sammelte Konrad Eichhorn seine wenigen Sachen vom Boden des Hasenbaus und blickte seinem jungen Kameraden noch einmal tief in dessen schwarze Augen und sagte: „Das einzige wovor du dich fürchten musst, ist die Angst selbst, denn sie ist es, die dein Leben mit Monstern füllt.“ Mit den Worten verabschiedete sich das Eichhörnchen und verließ den dunklen Tunnel, um sich an der frischen Luft einige Nüsse zu sammeln.
In den nächsten Tagen kam Konrad nicht wieder und Wilbur war sich schon sicher, dass er seinen neuen Freund nun für immer verloren hätte und mit jeder Stunde, die vorbeizog, fühlte er sich immer schlechter, bis er am Morgen seines dreiundsechzigsten Tages sicher war, dass seine Höhle geschrumpft war; und so sah er sich gezwungen, den sicheren Bau zum ersten Mal zu verlassen. Er brauchte lange, bis er sich überwinden konnte, seinen zerzausten Hasenkopf aus der Höhle zu strecken und zum ersten Mal die Wiesenlandschaft mit den eigenen Augen zu sehen, mit den eigenen Ohren zu hören und mit der eigenen Nase zu riechen, doch als er sich endlich getraut hatte, wurde er von einem warmen Gefühl überwältigt, das er nie wieder vergessen würde.
Wilbur saß dicht neben dem Eingang seines Baus und genoss die Sommerhitze auf dem Fell, als einer seiner Brüder zu ihm hoppelte und ihn freundlich zum Spiel aufforderte und obwohl Wilbur nur zaghaft zustimmte, bemerkte er bald, dass er seine Furcht immer mehr verlor, je länger und übermütiger er über die Wiesenlandschaft rannte.
Am Abend seines siebenundsiebzigsten Tages fand Wilbur seinen alten Freund, Konrad Eichhorn, der gerade unter einem Baum saß, sich vom Nüssesammeln erholte und an einem grünen Käfer knabberte. Freudig sprang Wilbur auf ihn zu und erzählte ihm von all seinen Erlebnissen und Abenteuern, davon wie er nun endlich ohne Angst durch die Welt zieht und dass er am nächsten Tag in die ferne Stadt reisen wolle, um sich die Haarlosen aus der Nähe anzusehen. Und währenddessen sich die beiden Freunde unterhielten, verschwand die Sonne hinter einem Hochhaus in der Ferne; hinter dem Hochhaus, in dem der Haarlose wohnte, der morgen in der Früh versuchen würde sich einen Hasen zu schießen und der von unserem ungewöhnlichen Helden, auf außergewöhnliche Art und Weise, aufgehalten werden würde.
Hallo liebe Rahel
Wow, das war ja mal etwas ganz anderes! Respekt dafür, dass du dich an ein so fremdes Genre herangewagt hast und ich muss sagen, dass es dir tatsächlich gelungen ist, deinen Stil fliessend in eine Kindergeschichte einzubauen. Super fand ich vor allem auch, dass du das Pferd sozusagen von hinten aufgezäumt hast und dich viel mehr auf die Vorgeschichte deines Helden, als auf die tatsächlichen Geschehnisse konzentriert hast. Beinahe so, als käme die Moral von der Geschichte, das Lernen bevor die eigentlichen Geschichte beginnt, was ich bei einer Kindergeschichte sehr unüblich aber passend finde.
Hallo werter Clue Reader
Nun, da hast du dir aber mehr Gedanken zu meiner Geschichte gemacht als ich (das sollte ich wahrscheinlich nicht zugeben, oder?). Aber jetzt wo du das so schön erklärt hast, kann ich nur mit dem Kopf nicken, lächeln und so tun, als wäre ich einfallsreicher als ich es tatsächlich bin…
*nickt und lächelt*
Liebe Grüsse und die besten Wünsche
Rahel