„Alle auf den Boden, die Hände über dem Kopf, verdammt“, schrie der junge Mann mit der schwarzen Skimaske (man konnte ihm das Alter an der Stimme anhören), während er mit einem viel zu großen Colt des Kalibers .45 herumfuchtelte. „Denkt ihr, ich mache Witze?“ Ich konnte hören, wie die paar Anwesenden panisch durcheinanderschrien; eine junge Frau, die gerade ihren Subaru Justy abholen wollte, weinte panisch, was in der großen Werkstatt komisch wiederhallte.
Ich konnte den kühlen und mit Ölflecken übersäten Beton auf der Haut meines Gesichts spüren, während ich dalag, die Hände ausgestreckt. Ich wusste was es brauchte, um diese Situation in ein Blutbad zu verwandeln – ein Wimpernschlag, nicht mehr, nicht weniger. Ich nahm einen tiefen Atemzug und überlegte, ob ich es riskieren wollte …
„Unangemessene Gewalt? Sie machen wohl Witze!“, rief ich empört aus. Der Captain schüttelte betont langsam den Kopf und erklärte dann: „Diese Situation als Notwehr zu beschreiben, wäre wohl der dreisteste Euphemismus, den ich je gehört hätte. Was sie gemacht haben, lässt sich nicht wegdiskutieren und ich habe keine Wahl …“
„Nein“, murmelte ich, „das kann doch nicht sein.“ Ich blickte in seine versteinerte Miene. „All die Jahre …“
„Rühr keinen Finger, dumme Schlampe!“, schrie mich der Räuber an und trat mir wütend in die Seite. Ich stöhnte gepeinigt auf, denn er hatte gut gezielt und es dauerte einen Augenblick, bis ich wieder einigermaßen bei Sinnen war. Ich begriff, dass er zwar meine Bewegung gesehen hatte, als ich nach meiner verdeckten Privatwaffe griff, jedoch nicht entdeckt hatte, dass ich eine trug. Doch so oder so hatte er mich jetzt auf dem Kieker und ich musste wirklich aufpassen, wenn ich nicht mit einer Kugel im Hinterkopf da enden wollte, wo noch vor zehn Minuten mein Ford gestanden hatte. „Okay, okay“, murmelte ich beschwichtigend, gerade laut genug, dass mich der Verbrecher über das Gedudel der Hitparade, die absurderweise weiterhin aus dem Radio ertönte, hören konnte. Dann nahm ich mich zusammen und sagte mit festerer Stimme: „Nehmen Sie sich, was Sie wollen und verschwinden Sie dann.“
Ich spannte mich an. Nein, Sue, diesmal nicht. Nicht schon wieder, du weißt doch, ein Wimpernschlag …
Geknickt verließ ich das Gebäude, in dem ich die letzten zehn Jahre gearbeitet hatte. Die gefliesten Wände und Säulen, die schäbigen Schreibtische und das emsige Treiben des Bienenstocks lagen hinter mir und das würde wohl auch für immer so bleiben. Meine Marke und Waffe lagen auf dem Tisch des Captains, der mir sie abgenommen hatte – freiwillig hätte ich sie nicht hergegeben. Dieser Job war alles, was ich hatte, alles was ich konnte. Ich war noch nie das typische Mädchen von nebenan gewesen, hatte mit Kindern und Kosmetik nichts am Hut und fühlte mich nur dann wohl, wenn ich das angenehme Gewicht einer Waffe in meinen Händen hielt.
„Ich verschwinde dann, wenn es mir passt!“, schrie mich der Maskierte an. „Du wirst mir nicht sagen, was ich zu tun habe!“
„Okay, okay“, murmelte ich etwas kleinlaut und versuchte den Mann möglichst zu beruhigen, denn mir begann ein grausiger Verdacht zu dämmern. Er war nicht hier wegen dem Geld in der Kasse, wer würde denn dafür schon eine Werkstatt überfallen? Und hätte er einen Fluchtwagen gewollt, hätte er sich längst einen nehmen können. Nein, das konnte nicht sein, dachte ich mir. Der berüchtigte Killer, dessen Spitzname eine reißerische Wortschöpfung war, die ich mich zu verwenden weigerte, würde sich sicherlich nicht ausgerechnet meine Autogarage als Ziel aussuchen – das wäre einfach zu absurd. Vorsichtig drehte ich meinen Kopf so, dass ich den Bewaffneten aus den Augenwinkeln beobachten konnte, ohne dass er mich gleich als eine Bedrohung wahrnahm. Die Situation war leicht zu überblicken: Er hatte zwei Mechaniker, mich und zwei Kunden (Die Frau mit dem blauen Subaru und einen Geschäftsmann, zu dem ich keinen der herumstehenden Wagen zuordnen konnte) als Geiseln. Während ich versuchte, jede Bewegung zu erfassen, rief ich mir das Täterprofil des Serienmörders in Erinnerung, das mich die letzten Monate in der Nacht wachgehalten und das ich studiert hatte, statt wie sonst zu meiner Entspannung mit dem Teleskop die Sterne zu beobachten. Egal, was ich tat, ich musste es verbissen und mit voller Überzeugung tun, auch wenn ich mich mit einem Massenmörder auseinandersetzte, der eigentlich gar nicht mein Fall war – nicht, dass ich momentan irgendwelche Fälle bearbeitete, fügte ich insgeheim verbittert hinzu.
Er würde als erstes die drei Männer erschießen, jeweils ins rechte Auge. Ein einziger Schuss, jedes Mal mit tödlicher Präzision ausgeführt. Dann würde er sich den Frauen widmen. Der älteren (also mir) würde er mit dem Messer die Kehle aufschlitzen, ziemlich schnell und schmerzlos, verglichen damit, was die jüngere (also Subaru) dann erdulden müsste. Doch konnte ich mir sicher sein, dass er es war? Ich konnte meinen Puls in den Schläfen pochen fühlen, während meine Hand langsam unter meine alte Biker-Jacke glitt, wo ich die handliche 9mm-Pistole in der Innentasche stecken hatte. Der Maskierte hatte mir den Rücken zugewandt und schien die zwei Mechaniker zu mustern. Von dem ausführlichen Täterprofil wusste ich, dass mir nicht mehr viel Zeit zum Handeln bleiben würde und ich musste mich entscheiden. Die Erinnerung an das Gesicht des Junkies, den ich vor einigen Monaten erschossen hatte, ließ mich nicht los – ich konnte es beinahe sehen, so als würde es mich vorwurfsvoll anblicken, während er mir die zerbrochene Flasche entgegenhielt, die ich als tödliche Waffe eingestuft hatte. Ein Wimpernschlag und ein Leben war ausgelöscht. Doch auch, wenn mich der Anblick nachts wach hielt und mir keine Ruhe ließ, mich gar in der jetzigen Situation lähmte und mich machtlos fühlen ließ, ich war noch immer überzeugt, dass ich nichts falsch gemacht hatte. Nein, Sue, jetzt nicht, du brauchst all deine Sinne, um … Der Maskierte richtete die Waffe auf dem Kopf des Geschäftsmanns und ich glaubte in seinen Augen zu sehen, dass er abdrücken würde. Diesmal war ich mir sicher, noch sicherer als mit dem Junkie. Ein Wimpernschlag …
Ich hielt meine rauchende 9mm und konnte beobachten, wie der Serienkiller mit einem Loch im Kopf, das man trotz der Skimaske gut erkennen konnte, und geweiteten, toten Augen hintenüberstürzte. Erst dann, als der größte Adrenalinschub abebbte, konnte ich die fürchterlichen Bauchschmerzen bemerken und blickte an mir herunter. Auf meinem weißen T-Shirt breitete sich rasch ein großer, roter Fleck aus. Und da begriff ich, dass ich mich heute Abend wohl nicht in meinen generalüberholten Ford setzten würde, bei Yang Take-Out kaufen und schließlich zuhause in Socken und Unterwäsche vor dem Fernseher essen würde. Ich stöhnte leise auf, was in der über der Werkstatt lastenden Stille unangenehm hell und klar klang und fragte mich, ob der Captain in unserer Stammkneipe eine Gedenkplakette an der „In the Line of Duty“-Wand aufhängen würde. Dann wurde mir schwarz vor Augen.