Diese Story ist auch als Hörgeschichte und in einem Sammelband erschienen.
Diese Geschichte spielt im erweiterten Universum der „Promise“-Reihe.
„Hamid! Was hast du jetzt wieder angestellt?“
Der Junge ging unter einem Stapel leerer Körbe in Deckung und schluckte; er wusste genau, was ihm blühte.
„Hamid, du verlauster Nichtsnutz!“
Schwere Stiefeltritte waren auf den knarrenden Dielen zu vernehmen und kamen in der Nähe des Jungen zum Stehen. „Hamid, verdammte Scheiße!“ Der Junge hielt seinen Atem am, bemühte sich, keinen Mucks zu machen. Diesmal durfte ihn der alte Nate nicht finden, die Strafe für das, was er getan hatte, wäre drakonisch. „Weißt du eigentlich, was du gekostet hast, du verfluchter Bastard?!“ Hamid zitterte, er wusste, dass er auf Tenowia rechtlos war, wenn der Kerl ihn aufspürte, war er seiner Gnade ausgeliefert. Seine jugendlichen Finger verkrampften sich um die Kreditchips in seiner Hosentasche, um Geklimper zu verhindern. „Du sollst für mich stehlen, wohl kaum von mir“, fluchte Nate weiter, marschierte derweil aber zum Glück aus dem Raum.
Hamid verharrte einige Sekunden in der Furcht, das Verschwinden seines Boss‘, könnte lediglich eine Finte sein. Erst als er am anderen Ende des langen Ganges eine Tür zuschlagen hörte, hob er den Korbstapel etwas an und lugte vorsichtig heraus. Zu seiner Linken lag der Ausgang auf eine schmale Seitengasse. Er war unbewacht. Der junge Taschendieb sprang flink auf, huschte los, ohne sich umzusehen.
Die Abendsonne brannte auf die Wüstenstadt hinunter, was die Bewohner kaum davon abhielt, auf den Straßen ihren Geschäften nachzugehen. Ab und an teilte ein Hovercraft die Menschenmaßen oder ragte der Kopf eines Kamels aus dem bunten Trubel, der nach gebratenen Speisen, scharfen Gewürzen sowie Schweiß roch. Hamid hatte sich in seinen Jahren auf diesem Planeten an das Durcheinander gewöhnt, er verband es sogar mit einer Atmosphäre von Zuhause. Über sein ursprüngliches Daheim wusste Hamid wenig. Er war zu jung gewesen, als ihn Menschenhändler an Nates Bande verkauft hatten, wo er zum Taschendieb ausgebildet worden war.
Im Laufe der Zeit hatte er viele Reisende getroffen, unzählige Geschichten gehört, von anderen Leuten, fremden Welten, Orten, an denen es besser sein solle. Weit war er auf seinen früheren Fluchtversuchen allerdings nie gekommen, denn Passagen waren teuer, zudem hatte Nate seine Leute überall, insbesondere am Raumhafen. Doch Hamid lernte laufend dazu, war älter, gewiefter geworden und wild entschlossen, sich nicht erwischen zu lassen. Außerdem hatte er die Kasse von Nates Bar ausgeräumt, also konnte er sicher sein, ihn würde weit schlimmeres als ein paar Stockschläge erwarten, wenn sie ihn jemals wieder in ihre Klauen bekämen.
Hamid wich einer Gruppe älterer Männer in weißen Roben aus, die lachend über den Sand schlenderten und hielt weiter Ausschau nach Nates Leuten. Er war gut darin, Gesichtern zu erkennen und hatte sich die Visagen der ganzen Bande eingeprägt, um jede Begegnung zu vermeiden. Wenn er am Hafen wäre, müsste er möglichst schnell auf ein Schiff kommen, lange Verhandlungen über den Preis konnte er sich nicht leisten, jede Minute, die er draußen verbrachte, war ein unnötiges Risiko. Zu seinem eigenen Erstaunen verspürte Hamid kaum Angst, sondern war fokussiert auf sein Ziel. Er war überzeugt es zu schaffen, musste es einfach schaffen!
Die breite Gasse mündete auf einen weiten, belebten Platz, an dem mehrere Landefelder des Frachthafens lagen. Hamid hatte sich erzählen lassen, es gäbe ausschließlich auf ärmlichen Randwelten wie Tenowia solche Raumhäfen, die ohne Abgrenzung mitten auf dem Marktplatz lagen und an denen es kein Security-Personal gab; auf jeden Fall war es ein Vorteil für ihn. Geschickt näherte er sich einem Marktstand mit Töpferware, blieb lässig in versteckt hinter einer mannshohen Vase stehen und musterte die geparkten Raumschiffe auf der anderen Seite des Platzes. Er hatte gelernt, wie man anhand des Schiffes viel über die Crew erfahren konnte, ihren Charakter, ob sie Anhalter mitnahmen, ob sie gefährlich waren. Das erste war ein elliptisches Modell neueren Datums (die Hersteller hatte Hamid nie auseinanderhalten können), das nur so vor Geschütztürmen strotzte, wahrscheinlich Freibeuter oder Menschenhändler. Das mittlere wirkte unheimlich alt und durch die geöffnete Rampe konnte Hamid unglaublich viel Krempel ausmachen, der ungesichert war. Vermutlich reiste der Besitzer bloß von Stadt zu Stadt, um seinen Trödel feilzubieten. Der Frachter ganz rechts in der Reihe sah vielversprechend aus: Ein antikes, eckiges Modell, dessen Brücke direkt über der geöffneten Laderampe thronte. Unförmig, klobig, trotzdem gut in Stand gehalten und die Ladebucht war leer, würde also wohl bald gefüllt werden. Alles an dem Schiff schrie „Schmuggler“, genau die Leute, die Hamid suchte; sie mochten Kriminelle sein, hatten dementsprechend ihren Preis, wie alles in der Galaxis. So lange er gewillt und in der Lage war, selbigen zu bezahlen, käme er von diesem Dreckklumpen weg, bevor ihm Nates Handlanger aufgriffen. Erneut sah sich der Junge nach drohender Gefahr um, dann rannte er los.
Als Hamid wenige Schritte von dem Schiff entfernt aus der dichten, ihn überragenden Ansammlung auftauchte, stutze er, denn das Bild, das sich ihm bot, war unerwartet. Auf der Laderampe des abgetakelten Frachters stand ein bunt gestreifter Liegestuhl auf dem eine bildhübsche, junge Koreanerin in einem Sommerkleid ausgestreckt lag. In der einen Hand hielt sie einen Drink, in der anderen einen papiernen Sonnenschirm, dazu lauschte sie scheinbar gleichgültig der Tirade des leicht untersetzten, hispanischen Kerls neben ihr, der einen Mechanikeroverall trug. „… mir egal, was der Captain sagt: Du bist verrückt und gehst mir echt auf den Keks, eines Tages werde ich dich aus der Luftschleuse werfen!“
„Guǎng jiāo yǒu, wú shēn jiāo“, gab sie gelangweilt zurück. „Ich habe andere Interessen, als Freunde zu machen.“
„Du bist genauso wenig bei uns, um alles zu klauen, was nicht niet- und nagelfest ist, bloß um danach mit chinesischen Sprichworten um dich zu werfen“, beschwerte sich der Mechaniker. „Das letzte Mal hast du uns die Polizei auf den Hals gehetzt.“
Fasziniert war Hamid näher getreten, ohne es selbst zu bemerken, nun fiel er dem ungleichen Paar auf. „Hey Junge“, rief der Mechaniker, „wir streiten uns nur, es gibt nichts zu sehen!“
Die Frau hob ihr Haupt, nestelte an ihren Haarnadeln und starrte ihn an. In diesem Augenblick wünschte sich Hamid nichts sehnlicher, als dass sie zehn Jahre jünger wäre. „Oder eher: Zu klauen“, fügte sie verschmitzt hinzu. „Der Bursche ist einer von meiner Sorte.“
„Oh nein, nein, nein“, wetterte der Mechaniker los. „Noch mehr verrückte Kleptomanen, ist das unbedingt notwendig?“
„Edle Reisende …“, begann Hamid stammelnd, zittrig eine Handvoll Kreditchips aus der Tasche kramend. In seiner Vorstellung von diesem Moment war er bedeutend souveräner aufgetreten. „Mein Name ist Hamid. Könntet ihr vielleicht … ich …“
Der Mechaniker legte seinen Schraubenschlüssel beiseite, gar die Aufmerksamkeit der Schönheit hatte Hamid geweckt. „Du willst eine Passage, Junge? Wohin denn?“
„Egal wo, so lange es besser ist als hier …“, stotterte Hamid, sich rasch nach potentiellen Verfolgern umsehend. „… und schnell geht.“
„Ich bin Sven“, stellte sich der Mann vor, ehe er auf seine Kameradin deutete: „Sie ist … eine Nervensäge.“
„Du mich auch“, murrte sie, schwang sich mit ihrem Schirm fuchtelnd von der Liege und kniete vorn Hamid nieder. „Anaata heiße ich, nicht Nervensäge. Wieso musst du so schnell verschwinden?“
„Ich bin …“, setzte Hamid an, verschluckte sich beinahe; seine Kehle fühlte sich derart rau an, als wäre ihm der ganze Sand dieser verfluchten Welt in den Hals gerutscht. Er schämte sich, es auszusprechen, es war unangenehm. Schließlich rang er sich dazu durch, sah dabei mit geröteten Wangen auf den Boden: „Ich bin ein Wüstenwolf.“
Die angebliche Nervensäge gab ein verwirrtes Geräusch an sich. Hamid beobachtete skeptisch, wie sie sich ernst an den Mechaniker wandte: „Sven, sag mal, hat Hamid ein genetisches Problem? Ich sehe keine Wolfsmutationen.“
„Nein, so ein Quatsch.“ Der Mechaniker wurde ernst, als er der Diebin erklärte: „So nennt man im lokalen Slang Sklaven, die durchbrennen und sich alleine durchschlagen. Ich denke, Hamid möchte gern eine Passage auf einen Planeten mit einem guten Asylrecht.“
„Wir nehmen ihn mit“, meinte die Koreanerin entschieden. „Er kann ja schlecht hierbleiben.“
„Das wird der Captain entscheiden“, erinnerte sie Sven, „weder du noch ich, auch wenn ich ebenfalls dafür bin, ihn mitzunehmen.“
Gespannt folgte Hamid der Auseinandersetzung zwischen diesen zwei überaus seltsamen Exemplaren der Gattung Raumschmuggler, immerhin entschied dieses Gespräch über seine Zukunft. „Der Captain wird uns glauben, das tut sie sonst auch“, behauptete die Diebin beherzt und winkte dann Hamid zu: „Los, rein mit dir, bevor dich einer der Wolfsfänger sieht. Ich will nicht in eine Schießerei verwickelt werden!“
„Das war unhöflich“, brummte Sven, während Hamid freudig an ihnen vorbei in den Laderaum eilte. Natürlich ging er das immense Risiko ein, an Menschenhändler zu geraten, nur, diese Crew wirkte auf ihn keineswegs so. Komisch vielleicht, aber ungefährlich. Erleichtert sah er sich in der Ladebucht des alten Frachters um, als der Mechaniker neben ihn trat: „Willkommen an Bord der Promise!“
Aus einem der kleinen Fenster konnte Hamid die blau-braune Kugel sehen, auf die sie zuhielten. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er eine andere Welt von oben sah. Es brauchte ihn einige Überwindung, sich zu der jungen Gaunerin umzuwenden, deren Äußeres es ihm angetan hatte: „Das ist also Berdeg; werde ich da sicher sein?“
Sie zog vielsagend die Augenbrauen hoch und machte es sich auf der Couch bequem. „Verglichen mit Tenowia, ja, doch ein Paradies ist es genauso wenig. Für einen Wolf bist du die letzten Tage ganz schön zahm geworden, so viel wie du letzthin von dir erzählt hast.“
„Was weißt denn du schon?“, schmollte er. Er hätte der Trulla die mangelnde Sozialkompetenz zu Beginn eher weniger zugetraut, schließlich war sie für eine Gaunerin viel zu elegant angezogen.
„Da, wo ich herkomme nennt man es ‚Gū’ér‘, wir hatten keine Wüsten, dafür ein großes Chinatown. Irgendwann, wenn du deinen Platz gefunden hast, wirst du akzeptieren müssen, was du bist und woher du kommst.“ Sie machte eine Pause, um sich eine Zigarette anzuzünden. „Bis dahin lasse ich die Witze bleiben, okay?“
Hamid beäugte den näher rückenden Planeten. Seinen Platz finden … Wie sollte er das bewerkstelligen? Andererseits, ging es ihm durch den Kopf, er war noch jung, die Galaxis stand ihm offen.