Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Diese Geschichte ist Teil der lose verbundenen Story-Reihe „Der Nachtvogel“.
„Ich hasse mein Leben“, fluchte Catherine, als sie über die ächzenden Bodenplanken zum Bug marschierte. Der Wind zerzauste ihre Frisur und ließ ihren Rock flattern, doch das fiel ihr nach Jahren an Bord der „Empress“ kaum noch auf. An der Reling angekommen umfasste sie das Geländer und genoss die Aussicht auf das Wolkenmeer unter ihr, das sich rund um das gigantische Luftschiff ausbreitete. Über ihr türmten sich die oberen Decks des alternden Leviathans und die vertraute Form des Zeppelins auf, immer wieder ein majestätischer Anblick, befand sie.
Als Catherine einen Mitarbeiter aus dem Heizungsraum entdeckte, der eine Zigarette rauchend an einem Fachwerkträger lehnte, entschied sie sich, wieder zurückzukehren. Sie hatte erreicht, wofür sie gekommen war, die Aussicht hatte ihre schlechte Laune über das Chaos auf der Brücke vertrieben. Der Heizer unterhielt sich mittlerweile mit einem der wenigen Passagiere auf dem Luftfrachter, einem Herrn mit Zylinder, der verglichen mit dem Rest der Besatzung unpassend reich wirkte. Gerade, als sie an den beiden vorbeischlenderte, verabschiedete sich der Heizer und schritt in Richtung des Maschinenraums von dannen.
„Madam“, grüßte der Passagier und hob seinen Zylinder, ehe er umständlich seine Pfeife ansteckte. „Leider weiß ich Ihren Rang nicht, um sie standesgemäß zu grüßen.“
Catherine schmunzelte über den für sie ungewohnten Umgangston. „Exfrau des Captains, Sir. Nun ja, eigentlich Captain, seit der vorherige Captain betrunken sein Schiff verspielt hat.“
„Captain.“ Der Fremde hob erneut seinen Zylinder. „In dem Falle danke ich Ihnen für die sichere Reise.“ Er lächelte sie ein Weilchen zu lange höflich an, zuckte zusammen und meinte schließlich: „Du meine Güte, wo bleiben meine Manieren? Baron von Wulfenhausen, zu Ihren Diensten.“
„Catherine“, entgegnete sie, seinen Knicks erwidernd. „Was verschlägt einen Edelmann auf ein Schiff wie dieses?“
„Ich reise nach Hause“, erklärte der Baron, einen Zug von seiner Pfeife nehmend. „Und sind wir mal ehrlich, Überfahrten auf Edelzeppelinen sind langweilig. Hier geht es erquickender zu und her.“
„Wenn Sie meine zankende Familie als erquickend bezeichnen wollen, Baron“, scherzte Catherine und wischte sich eine Haarsträhne, die ihr der Wind ins Gesicht blies, weg. Erstaunt fragte ihr Gegenüber: „Wie das? Wird das Luftschiff von Ihrer Familie betrieben?“
„Mehr oder weniger“, lachte Catherine. „Mein Cousin ist der Chefheizer, mein Halbbruder der Maschinist, mein Großonkel der …“ Sie machte eine Pause. „Na ja, der sitzt im Schaukelstuhl auf dem oberen Deck und füttert die Vögel. Ausschließlich mein Bruder hat einen anderen Lebenswandel gewählt, er ist jetzt Arzt in der Stadt.“ Vage deutete sie in die sie Flugrichtung. „Irgendwann kehrt auch er zurück und wird Familienarzt an Bord.“
Der Baron gluckste, wie nur ein Mann, der seinen Schnurrbart liebt, glucksen konnte. „Ich sehe schon, Sie haben fürwahr ein Familienimperium aufgebaut, und …“
„Freibeuter!“, ertönte ein Ruf von der Brücke und Catherine fuhr zusammen. Tatsächlich tauchte ein schwarzer Zeppelin an ihrer Steuerbordseite aus dem Wolkenmeer auf und hielt direkt auf sie zu. Entschlossen spurtete sie zur Treppe – der kuriose Baron war verschwunden, vermutlich, um sich in seiner Kabine zu verstecken. Sie konnte es ihm nicht verübeln, entweder, man war für die Lüfte gemacht oder nicht, dachte sie sich. Sie hob den Rock und hastete die Stufen zum Kommandodeck hoch. Ein Kampf stand bevor, daran hatte sie keinen Zweifel – es wäre weder ihr erster, noch beabsichtigte sie, dass es ihr letzter würde.
„Hart Steuerbord, volle Kraft voraus!“, befahl Catherine. In den letzten fünf Minuten war der schnellere Freibeuter-Zeppelin stetig nähergekommen, sie konnte bereits die grobschlächtigen Kerle mit ihren Schwertern und Musketen an der Balustrade ausmachen. Obschon sie routinierte Luftfahrerin war, war es dennoch das erste Mal, dass sie ihr Schiff als Captain verteidigte, und sie wollte nicht verantwortlich sein, wenn ihre Familie alles, was sie aufgebaut hatten, verlor. Waltred, der Steuermann und ihr zweiter Cousin, riss verbissen das Rad herum. „Cathy, du willst ihnen den Weg abschneiden?“
„Sie sind vielleicht schneller, aber wir sind grösser“, versuchte sie das Heulen des Horns zu übertönen, als das schwere Luftschiff mit einem gequälten Knarren in die Kurve lag. „Niemand legt sich mit unserer Familie an!“ Insgeheim war sie wesentlich weniger zuversichtlich. Ihre Gegner waren zu gut bewaffnet und hier im Himmel herrschte das Gesetz des Stärkeren, sie unter die Wolken zu zwingen war ihr einziger Ausweg.
„Grundgütiger“, stieß Waltred aus und hielt sich die Ohren zu. Zusätzlich zum Horn dröhnte ein Kreischen durch die Luft, ein Geräusch, das niemand von ihnen je zuvor gehört hatte. Auch Catherine fror entsetzt ein und blickte nach oben. Ein mechanischer Vogel, nein, ein Mensch mit Vogelmaske und mechanischen Schwingen kreiste um den Schornstein und stieg im Auftrieb des Rauches nach oben. „Das kann nicht sein …“, stammelte sie ungläubig, den Maskierten musternd. Sie kannte die Legenden vom Helden aus der Stadt, der Leuten in Gefahr half, dem unbekannten Kämpfer für Gerechtigkeit …
„Es ist der Nachtvogel!“, frohlockte Waltred, begeistert zum Himmel gestikulierend. „Der Nachtvogel ist zu unserer Rettung geeilt.“
Verwirrt beobachtete Catherine den Helden, der direkt auf das Freibeuterluftschiff zuhielt. Es war weder Nacht noch waren sie unten in der Stadt, grübelte sie, während der Rächer seinen Arm ausstreckte und etwas Kleines auf den feindlichen Zeppelin abfeuerte. Mehrere nahezu unsichtbare Projektile malträtierten die Blase, an der das Freibeuterschiff hing und es begann rasch zu sinken. Ehe es in dem Wolkenmeer versank, erkannte Catherine, wie Piraten auf dem Deck panisch durcheinanderrannten. Der Nachtvogel kam derweil herbeigeflogen, umrundete mit einem weiteren mechanischen Kreischen einmal die Brücke und landete, in der Tat wie ein Vogel, auf einem Geländer. Catherine, der nicht einmal Zeit geblieben war, ihr haarscharfes Entkommen zu feiern, trat vom Kommandodeck auf den umgebenden Steg und fragte: „Womit können wir Ihnen das je verdanken, geschätzter …“
„Es war mir eine Ehre, Captain“, unterbrach sie der Fremde und Catherine krauste die Nase. Diese Stimme kam ihr bekannt vor, aber woher …? „Ich bitte Sie nur um eines. Behalten Sie mein Geheimnis für sich, Captain – alles andere hätte schlimme Konsequenzen für meine Stadt.“
„Welches Geheimn…?“ Noch bevor sie fertigsprach, verneigte sich der Vogelmann, stieß sich mit den Füssen ab, breitete seine mechanischen Schwingen aus und sauste in die Tiefe. Sie beugte sich nach vorn und starrte ihm hinterher, wo sie durch ein Loch in der Wolkendecke Teile der Metropole sah. Nach wenigen Sekunden wandte sie sich um und ging auf die Brücke zurück. „War es wirklich der Nachtvogel?“, erkundigte sich Waltred neugierig.
Catherine nickte. „Ein wahrer Held, der nur Gutes tut, um Gutes zu tun“, trug sie den Mottospruch des Helden vor, legte dabei andächtig ihre Hand auf die Brust und schüttelte sogleich den Kopf. „Egal“, rief sie sich selbst zur Ordnung. Was auch immer ihnen gerade widerfahren war, sie hatte einen Job zu tun. „Wir sind über der Stadt, bereiten wir die Landung vor.“
„Okay.“ Waltred betätigte einige Ventile, Dampf zischte und das alternde Luftschiff sank langsam durch die Wolken. „Sag mal, hatten wir nicht einen reichen Passagier? Ich hoffe, der macht keine Probleme wegen dem Freibeuterangriff.“
Catherine rieb sich über die Stirn, da fiel es ihr wie Schuppen vor den Augen. Voreilig haspelte sie: „Nein, nein, das war auf unserem letzten Flug, erinnerst du dich nicht mehr?“