Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Pierres Verstand arbeitete auf Hochtouren, als er eingekeilt in einer Gruppe aus fünf am Weinregal lehnte. Ein Glas mit Stiel hielt man am oberen Teil desselbigen, richtig? Er trank keinen Wein, ließ überhaupt die Finger von Alkohol, mal abgesehen vom weihnächtlichen Schlummertrunk, den er bloß schluckte, weil seine Oma diese Tradition mochte. Die Luft im noblen Kellerrestaurant war stickig, die Einrichtung tatsächlich antik und die Atmosphäre bewegte sich irgendwo zwischen kulturell und prätentiös.
„Diese herbe Note macht ihn zu was ganz besonderem“, meinte einer von Thomas‘ Kollegen mit gönnerischem Blick auf Wein und Runde. „Zwar keineswegs mein Favorit, aber der beste Tropfen im Haus.“ Wieso nochmal war er mitgekommen, fragte sich Pierre gleichzeitig gegen Verzweiflung, Paranoia und Langeweile ankämpfend.
Thomas war seit bald fünfzehn Jahren sein bester Freund, derjenige, dem er bis vor kurzem blind vertraut hatte. Ihre Beziehung war ins Wanken gekommen und er hatte die Wahl gehabt; die Freundschaft beenden oder sich zusammenraufen. Pierre hatte sich für letzteres entschieden. Vorerst.
„… zu schade. Immerhin sind die Prämien …“ Mist, er hatte sich zu sehr auf seine Körperhaltung konzentriert (niemals Arme sowie Beine kreuzen) und komplett den Anschluss an die Unterhaltung verloren. Angestrengt lauschend verlagerte er mehrmals sein Gewicht, ehe er sich zusammenriss und einigermaßen gelassen stehenblieb. Seichte Jazzmusik dudelte dezent im Hintergrund, sodass sie unangenehme Stille auflockerte, allerdings ohne die angeregten Gespräche der Gäste zu stören; seine Ohren fokussierten sich gleichwohl auf das dahinplätschernde Saxophon und blendeten die Stimmen um ihn herum automatisch aus.
„… sagst du dazu, Pierre?“ Der Angesprochene fror für eine halbe Sekunde ein, bevor er zu seinem eigenen Erstaunen ruhig erwiderte: „Tut mir leid, ich war in Gedanken. Wozu soll ich etwas sagen?“
Niemand kicherte oder beäugte ihn missbilligend, stattdessen erläuterte die Blonde: „Kann ja passieren. Wir diskutierten gerade über die kommenden Prämienanpassungen.“
Natürlich hatte Pierre davon gehört, schließlich scheute er weder Nachrichten noch Zeitungen, dennoch wusste er zu wenig darüber, um sich eine konkrete Meinung zu bilden und wenn er ehrlich sein sollte, interessierte ihn die Angelegenheit nicht. Erneut hatte er eine Wahl zu treffen; offen antworten oder eine inhaltslose Aussage zum Besten geben um den Anschein zu wahren? Er schluckte. „Tut mir leid, ich habe kaum Ahnung davon und glaube, es bringt wenig, wenn ich den Nachrichtensprecher zitiere.“ Nervös in ihre verwunderten Gesichter lächelnd, linste er zu Thomas. Dieser grinste breit, zeigte keine Spur von Scham für seinen Freund, sondern klopfte ihm sogar auf den Rücken und gluckste: „Ach, es sei dir verziehen, du Künstler.“ Künstler. Dieses Wort hatte ihn schon oft aus der Verantwortung gezogen und Pierre war sich unsicher, ob ihm diese Tatsache gefallen sollte. War es eine belustigte Feststellung? Eine Beleidigung?
„Stimmt, stimmt“, posaunte der Freund der Blonden, der in derselben Hand ein topmodernes Smartphone und einen Pager hielt. „Wie bist zu eigentlich zum Orchester gekommen?“
„Nun, ich ging zur Audition und war besser als meine Konkurrenz“, erklärte er schulterzuckend. Vielleicht hätte er das Offensichtliche schöner ausdrücken können, überlegte er, während die kleine Gruppe aus Thomas‘ Kollegen über seinen vermeintlichen Witz lachten. Unterdessen gab das Saxophon seinen Platz an ein Piano ab, die Brünette zupfte an ihrem Kleid und der Weinkenner an der Krawatte.
„Ha, wunderbar. So einfach kann das sein.“ Das Lachen versiegte nach und nach. „Aber sag, Pierre, wie ist es so im Orchestergraben?“
„Ziemlich eng, vor allem wenn man neben den Violinisten sitzt. Ansonsten … Ich mag die Proben lieber.“ Ihm war, als hörte er die Anschläge der Tasten, der Pedale, so mühelos gelang es ihm, der Musik zu folgen. Nur das neuerliche Gelächter verschwamm zu einem unerkennbaren Brei aus skurril-kehligen Lauten. „Mehr Platz“, begründete er seine Vorliebe und fügte „bitte entschuldigt, die Natur ruft“ an, um der Kakophonie zu entkommen.
„Siehst du?“ Thomas holte ihn beschwingten Schrittes auf halbem Weg zum Klo ein. „Läuft doch gut.“
„Wenn du meinst.“ Je grösser die Entfernung zum Gastraum, desto lauter die stupide Dudelei, sie hallte von den weinroten Wänden. „Ich gehe bald.“
„Das war ja klar“, übertönte Thomas das Piano. „Lass mich raten: Dir ist das langweilig, du magst die Leute nicht und findest das Lokal scheiße?“ Er wirkte nicht wütend, schlimmstenfalls enttäuscht und gewiss überzeugt von seiner Interpretation.
„Naja, das Lokal ist erträglich, die Leute ebenso und mir ist nie langweilig, ich spiele gedanklich Rachmaninow.“ Das amüsierte Grinsen seitens Thomas vermittelte ein vertrautes Gefühl, welches Pierre die Veränderung schonungslos vor Augen führte. Der Typ, der neben ihm in eine hübsch verzierte Keramikschüssel pinkelte, hatte kaum etwas mit dem Freund gemeinsam, mit dem er aufgewachsen war. „Du sprichst anders, merkst du das?“, bemerkte Pierre beiläufig.
„Hu? Ich rede völlig normal.“ Die Verdatterung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
„Jetzt schon, weil wir alleine sind.“ Seinen besten Freund musternd, schüttelte er ab und trat zum Waschbecken. Heute war nicht das erste Mal, dass er Thomas innerhalb seines Freundeskreises erlebte, wieso also befremdete ihn dessen Verhalten dermaßen? Der Thomas, der gediegene Restaurants besuchte, Wein goutierte, Sportveranstaltungen zu schätzen wusste und die Eigenheiten des Dialekts seiner Wahlheimat betonte, war der echte Thomas; der charmant-peinliche Typ, der hin und wieder auf seinem Sofa nächtigte, beleidigend scherzte, keine Scheu vor Fäkalsprache hatte und stundenlang Videospielgegner ins temporäre Jenseits beförderte, war nichts weiter als das Echo einer vergangenen Epoche. Sie beide waren längst aus dieser Identität herausgewachsen und zwar in sehr unterschiedliche Richtungen, hielten sie dem anderen und sich selbst zuliebe dennoch am Leben. Nach dem, was geschehen war, war Pierre zerfressen von Zweifeln, ob er noch daran festhalten oder ob er dieses Überbleibsel von Thomas hinter sich lassen wollte.
Die anderen tummelten sich noch immer am Weinregal, schlürften, sippten, ignorierten die Musik. „Hey, da seid ihr ja!“, wurden sie gläseremporhebend begrüßt. „Na, wie war’s?“
„Ho, beinahe so erleichternd wie die Sitzung heute früh“, gab Thomas exakt eine halbe Oktave tiefer als üblich zurück und erntete dafür schmunzelnde Anerkennung. Für diese Menschen schien er sich völlig natürlich zu verhalten, keiner schielte skeptisch auf sein durchgedrücktes Kreuz, die aufgeplusterte Brust oder steif gestikulierenden Arme. Pierre hingegen sah eine Karikatur vor sich stehen, den durchsichtigen Versuch, sich als souveräner Geschäftsmann zu profilieren, von einer Gruppe angenommen zu werden, die mit hoher Wahrscheinlichkeit gleichermaßen posierten wie Thomas; die Mimik des Weinkenners wirkte achtsam konstruiert, das Lachen der Blonden künstlich, die Pose ihres Freundes gewählt und die Worte der Blonden gesucht. Sie alle waren wie Pierre selbst, arbeiteten ohne Unterlass an einer Fassade. Endlich verließ das unterdurchschnittliche Piano die akustische Bühne und Streicher quälten sich an seine Stelle, sangen ein Lied frei von jeder Virtuosität.
„Hey, Maestro“, wurde Pierre mit der falschen Ansprache ins Rampenlicht gestellt. „Wie gefällt dir die Musik hier?“
„Banal, dafür wohl allgemeinverträglich.“ Erschrocken straffte er seine Haltung, sein unteres Augenlid zuckte. Er war unvorbereitet gewesen und hatte sich wie ein arroganter Snob aufgeführt. „Also, ähm …“
„Hört, hört“, plärrte der Freund der Blonden, die Brünette feixte und warf ihre Haare wie ein Topmodel über ihre Schulter.
„Wisst ihr, mein Kumpel hier“, begann Thomas mit einer Pierre unbekannten Intonation, „hört in seiner Freizeit lieber Heavy Metal.“
„Oh, echt?“, klinkte sich die Blonde freudig ein. Ihre Züge hellten auf, in ihrem Lächeln schwang ehrliches Interesse mit, was Pierre dazu veranlasste, sich zu entspannen.
„Ja, wobei ich auch andere Richtungen gerne höre. Ich glaube, in beinahe jedem Genre findet man gute wie schlechte Musik.“
„Mal abgesehen von Schlagertechno“, grölte der Weinkenner plötzlich ausgelassen, ehe die Blonde ganz unelegant grunzend hinzufügte: „Oh Gott, ja! Der ist durch die Bank weg schrecklich.“
„Da kann ich nicht widersprechen“, bestätigte Pierre und stellte nebenbei fest, dass die Stimmen in den Vordergrund traten.
„Ich war neulich an einem Konzert von …“ Im Nu war die Anspannung verflogen, die Bewegungen flüssiger, das Gespräch locker, die Gesellschaft angenehm geworden. „… Festival ist absolut toll. Ich war letztes Jahr am …“ Musik, egal welche, schlägt Brücken. Nur eines wird sie nicht flicken können, das verstand Pierre nach Wochen der Unsicherheit, nämlich die zerbrochene Verbindung zwischen ihm und Thomas.