„Fu…“, begann Carla und konnte den zweiten Teil des Wortes gerade noch unterdrücken, nachdem ihr der Collegeblock, den sie sich unter den Arm geklemmt hatte, weggerutscht und auf den Bürgersteig geklatscht war. Umständlich ging die mit Büchern beladene Medizinstudentin in die Hocke und versuchte ihn wieder aufzuheben. Gerade, als sie mit einem ausgestreckten Finger den Block berührte und glaubte den Block zu fassen zu kriegen, rutschte der dicke Wälzer, den sie unter dem anderen Arm gehalten hatte, ebenfalls weg. Carla verlor endgültig das Gleichgewicht und landete unsanft auf ihrem Hintern. „Verdammt, verdammt, verdammt!“, zischte sie und schlug mit der flachen Hand auf den schmutzigen Asphalt, bevor sie kapitulierend seufzte. „Scheißtag.“
„Na, bist du wieder ein Miesepeter?“, erklang hinter ihr eine männliche Stimme, die eines Radiomoderators würdig gewesen wäre. Ohne aufzustehen oder sich umzuwenden murmelte sie: „Hey, Felipe.“
„Du willst doch Ärztin werden, oder?“, begann ihr Kamerad, mit dem sie früher dieselbe Schule besucht hatte, während er neben sie trat und sich an ein Parkregelschild lehnte. „Wieso sitzt du da auf dem dreckigen Boden, hast du keine Angst vor Krankheiten?“
„Ärzte sind immer krank, gestresst und überarbeitet“, entgegnete Carla, bevor sie mit einem matten Grinsen hinzufügte: „Ich übe nur schon mal für später.“
„Ob das der richtige Ansatz ist …‘“, witzelte Felipe, hob ihren Collegeblock auf, auf die gelben Zettel starrte und langsam ablas: „‚Sternocleidomastoideus‘ – Was ist denn das für ein Tierchen?“
Carla brach in Gelächter aus, ihre Laune schien sich wieder gebessert zu haben. „Der SCM ist ein Muskel“, erklärte sie, während sie den mehrere Pfund schweren Schmöker aufhob und dann aufwändig aufstand. Sie setzte dazu an fortzufahren, doch Felipe unterbrach sie hastig: „Okay, das reicht, mehr Details brauche ich nicht, sonst erkläre ich dir nachher genau, wie ein NAND-Gatter funktioniert.“
„Du bist ein Vollblut-Nerd“, lachte sie und er nickte zustimmend und antwortete: „Du aber auch.“
„Wo du Recht hast …“, begann sie und nahm ihren Block entgegen, als er ihn ihr überreichte. „Danke.“
„In welche Richtung musst du gehen?“, fragte Felipe und sie deutete die Straße lang. „Zum Supermarkt. Und du?“
„Dito.“ Er nahm seine Kopfhörer ab und verstaute sie in der großen Umhängetasche, die mindestens einen Laptop und mehrere Bücher zu beheimaten schien. „Was dagegen, wenn wir zusammen gehen?“
„Kein bisschen“, meinte Carla und rückte mit der Hand, in der sie nur den Bock trug, ihre Brille zurecht. „Ich bin froh darum etwas Ablenkung zu kriegen, bevor ich die ganze Nacht durchlerne.“
„Menno, hast du schon wieder eine so große Prüfung?“
„Nicht besonders groß“, meinte sie schulterzuckend. „Aber ich will wie jedes Mal Jahrgangsbeste werden, also muss ich früh mit dem Lernen beginnen.“
Felipe musste lachen. „Verbissen wie eh und je. Und eine weitere Woche, in der du von Tiefkühlpizza leben wirst. Was wohl dein Arzt dazu sagen würde?“
„Der wird das nie erfahren“, flüsterte Carla gespielt dramatisch, musste jedoch wegen dem Hupkonzert an einer nahen Ampel ihre Stimme anheben, damit er sie noch hören konnte. „Und was hast du noch vor?“
„Ich sollte ein wenig für einen Leistungskurs programmieren.“ Felipe machte eine Pause und wich einer Gruppe Geschäftsleute aus, die aus einem der Bürohäuser traten. „Ich werde am Ende wohl wieder an meinem eigenen Projekt sitzen.“
„Stimmt, wann wir das Spiel eigentlich fertig?“, wollte Carla wissen. „Ihr seid schon eine ganze Weile da dran.“
„Das ist noch geheim“, begann Felipe verschwörerisch, fügte dann jedoch mit einem Zwinkern hinzu: „Das soll heißen, wir haben keine Ahnung.“
Manchmal frage ich mich, wieso wir solche Fanatiker sind“, sinnierte Carla. „Ich konzentriere mich nur auf mein Studium, nur aufs Lernen und darauf, etwas Neues zu verstehen und du sitzt immer am Computer, hast nur deine Projekte im Kopf …“
„Und?“, wollte Felipe, der ihr einen skeptischen Blick zuwarf, wissen. „Bisher sagst du das Offensichtliche. Außer, dass Zielorientiertheit nicht unbedingt was mit Träumen zu tun haben muss, oder?“
„Hm“, machte Carla, „ich glaube schon. Aber zumindest mit Idealen, man muss ja einen Grund haben, etwas tun zu wollen, fast nur das zu tun und auf vieles zu verzichten.“
Er blieb stehen und starrte sie ungläubig an. „Bereust du etwa, nicht auf mehr Saufparties zu gehen oder belegst du neuerdings einen Abendkurs in Philosophie?“
„Nein, nein!“, rief sie sofort aus. „Die Leute da sind grauenhaft, dumm und todlangweilig!“
Felipe musste lachen. „Welche? Die Komasäufer oder die Philosophen?“ Er unterbrach sich, bevor er ernster fortfuhr: „Siehst du? Faszination für etwas ist wie die Büchse der Pandora, du weißt erst was rauskommt, wenn du sie aufmachst, also dich an irgendein großes Projekt setzt. Bei dir scheint es ja nicht allzu schief gelaufen zu sein.“
„Ich glaube nicht, dass das die genaue Definition von der Büchse der Pandora war“, entgegnete Carla nachdenklich, „aber es ist nahe genug dran.“ Nach einem Augenblick fügte sie hinzu: „Trotzdem frage ich mich manchmal, was der Preis ist, wie viel man im Leben verpasst, wenn man ständig nur auf etwas konzentriert ist.“
Felipe seufzte theatralisch. „Komm schon, echt? Ausgerechnet du, von allen Leuten?“
„Was denn?“, fragte Carla erstaunt.
„Du willst Ärztin werden, also wirst du etwas tun, das verdammt wichtig ist“, erklärte er überzeugt. „Du wirst Menschenleben retten, ohne Leute wie dich hätten all die Komasäufer mit Alkoholvergiftung schlechte Karten. Wenn du dir solche Frage zu stellen beginnst, dann bedeutet das, dass alle anderen sich das sowieso fragen müssen. Jeder verpasst irgendwas.“
„Stimmt auch wieder“, meinte sie. „Alles hat seinen Preis.“
Er kickte ein Steinchen über den Bürgersteig und fügte hinzu: „Wir können tun, was wir gerne tun und uns dem voll und ganz widmen. Wer kann das schon von sich behaupten? Ich glaube, nicht, dass es so viele sein können, also können wir es genauso gut als Gabe sehen statt als Fluch. In der Booleschen Algebra würde man das mit einem ‚XOR‘ beschreiben, es ist eine klassische Entweder-oder-Situation, man kann nicht alles haben, also kann man genauso gut das Beste aus dem machen, das man hat, statt sich dafür zu schämen, ein Nerd zu sein.“
„Sagst du das auch deinen Eltern, wenn sie dir sagen, dass du mehr aus dem Haus gehen solltest?“, fragte sie lachend.
„Nein, das haben sie aufgegeben. Ich sitze ja andauernd mit dem Laptop unter einem Baum, ergo bin ich draußen.“
„Mit einem Laptop, auf dem ein Aufkleber mit dem Text ‚Mind over Matter‘ drauf ist“, ergänzte Carla amüsiert, „da glaube ich kaum, dass irgendwer sich noch Illusionen dazu macht, dass du joggen gehen wirst.“
„Falls du eines Tages meine Ärztin sein solltest, kannst du mich dann dazu zu überreden versuchen.“
„Klar, ich …“, begann Carla und unterbrach sich dann. „Shit, wir sind vor einem Block am Supermarkt vorbeigekommen. Ich muss zurück, ich sollte noch Tampons holen und, was noch viel wichtiger ist: Tiefkühlpizza.“
„So viel zu ‚Mind over Matter‘“, sagte Felipe breit grinsend. „Aber ich habe Recht, wir können noch so komisch sein, am Ende sind wir gut in dem, was wir tun.“
„Sagt der Typ, der den Supermarkt verpasst hat“, frotzelte Carla. „Träumer.“