Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Du kauerst unter einer Birke, klammerst dich zitternd an ihren dünnen Stamm. Vorhin habe ich ihre Stimmen vernommen, in ihren Stiefel walzten sie zackig durchs Unterholz, eilten an uns vorüber. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass unser Verschwinden so schnell auffällt, hoffte, es käme frühestens beim morgendlichen Appell zur Sprache. Was unser Ausbruch für die anderen, unsere Freunde und Leidensgenossen, bedeutet, ist mir klar. Ich denke kaum mehr daran, wegen dir.
„Efim, sei still“, befehle ich dir im Flüsterton. Du gehorchst, verschluckst dein Wimmern und gewährst mir, dich ins kalte Weiß zu drücken. Erst heute früh habe ich das Loch im Zaun hinter der Wäscherei erspäht. Obwohl ich gerne einen besseren Zeitpunkt abwarten, dich darauf vorbereiten wollte, musste ich ohne Zögern handeln. Sie hätten den losen Elektrodraht bestimmt bald bemerkt und unsere einzige Chance zerstört.
Papa hatte oft gesagt, eine verpatzte Möglichkeit sei immer die Schuld desjenigen, der sie vorbeiziehen lässt. Wie ernst er das meinte, war mir wahrscheinlich nie so richtig bewusst gewesen. Bevor es begann, ging es uns ganz gut. Sicher, in jeder Familie gab es Probleme, so auch in unserer, aber unser kleines Familiengeschäft lief dank Papa ordentlich, er war angesehen und wir wurden geliebt. Bis sich alles änderte. Anfänglich waren es Blicke, später Worte, schlussendlich tauschte man seinen Werktagsanzug, unsere Wollmäntel gegen Streifen in Hellblau und Weiß aus.
Wie Drachenhälse stechen die Zaunpfähle aus dem Boden, trennen Leben von Verderben und wir sind endlich, nach Entbehrungen, Schikane und Qualen, auf der richtigen Seite angekommen. Wie ein Kind, das nach Führung sucht siehst du mich an, also bedeute ich dir, jede Bewegung deines ausgedörrten Leibes tunlichst zu vermeiden. Dabei bin ich der, der Führung braucht, denn sie haben mir meine Brille genommen. Seither bin ich auf deine Sicht angewiesen. Beschämt schiebe ich den Gedanken beiseite, dich alleine deshalb geweckt und mitgenommen zu haben. Du warst ein starker Mann, viel stärker als ich es je sein konnte und du, mein Bruder, hast mich beschützt, warst mein Fels im Untergang. Von diesem Mann ist kein Stück mehr übrig. An einem Sonntagmorgen war es passiert, du hast Wundpflaster gestohlen und es Dvonta, dem kastrierten Fiakerfahrer, gebracht und dich dabei erwischen lassen. Seit der drakonischen Tracht Prügel bist du ein anderer, das bezeugt nun der schwarze Winkel, der deine Brust verschandelt, dich als asozialen Gestesschwachen ausweist.
„Yitzhak.“ Du wiegst deinen kleinen Tannenzapfen in den Händen, du hast ihn aus der Heimat mitgebracht, wieso weiß ich nicht, doch du trägst in ständig bei dir. Dein Schatz ist hier genauso fremd wie wir. „Yitzhak“, wiederholst du quengelnd. „Yitzhak, ich will heim.“
„Efim.“ Die Schneenecke ist dicht, verwandelt den Birkenwald in eine beinahe lautlose Kulisse, einen surrealen Ort, an dem man die Freiheit schmecken, trotzdem kaum fassen kann. Ich darf kein Risiko eingehen und zu früh weitermarschieren, noch weniger können wir zu lange verharren. Ein Fehler und unsere Existenz wird beendet, entweder innert Sekunden oder über Jahre.
„Efim, siehst du die Baumgruppe dort hinten?“ Du neigst den Kopf, wackelst ihn hin und her, Informationen benötigen eine Weile, bis sie den kümmerlichen Rest deines einst scharfen Verstandes erreichen, dann nickst du. „Wenn ich ‚Los‘ sage, rennen wir dorthin.“ Deinen Tannenzapfen in den Beutel steckend, richtest du dich etwas auf und machst dich für den Sprint bereit. Es ist eine Tragödie, deinen Körper so zu sehen, du wiegst kaum mehr als ein achtjähriger Junge, deine rissige Haut spannt übers Gerippe, du bist dreckig, stinkst nach Schweiß und Urin. Mir geht es nicht anders. Viele sind dieser Marter bereits erlegen, so auch Papa. Weshalb bloß tun sie uns das an? „Los.“
Die Birken ragen ähnlich furchteinflößenden Geistern aus dem Schnee, ihre schwarzweiße Rinden berichten makabre Geschichten von Ruß und Asche. Wir sind bei der Weichsel angelangt und legen eine kurze Rast ein. Ich bin dankbar, ein Gefühl, das mir in den letzten Monaten abhandenzukommen drohte. Ishmael hat den Weg nach Bobrek oft beschrieben, ebenso die Scheune, hinter deren Tor wir auf Hilfe träfen. Judenfreunde soll es dort geben, die Entflohene über ihre Routen in die Schweiz schleusen können. Zuerst mit dem Pferdewagen, danach ein Stück zu Fuß und über die Grenze müssten wir mit dem Velo, wie die Schweizer ihre Fahrräder nennen. Dort erwarten uns Berge, Frieden, ja gar Erlösung für mich sowie meinen debilen Bruder. Niemand weiß, ob die Erzählungen des Alten wahr oder lediglich Ausdruck seiner verzweifelten Hoffnung sind. Auch wir nicht, dennoch wage ich es, dich in die Ungewissheit zu leiten, womöglich in den Tod.
„Yitzhak“, unterbrichst du meine Besorgnis. „Ich habe Hunger.“ Es ist erstaunlich, dass man diese Empfindung niemals ausblenden, immun gegen das bleischwere Loch im Magen werden kann.
„Ich weiß, Efim. Vielleicht gibt es in Bobrek ein Stück Brot“, versuche ich dich zu besänftigen, da ich fürchte, du könntest unter dem Druck brechen. „Vorher müssen wir schwimmen, um nach Bobrek zu kommen.“ Sanft schiebe ich meine knochigen Finger in dein Haar, es ist filzig-weich wie ein Hundeohr.
Inmitten von Birkengerippen stehen wir tropfnass da, der Dorfrand mitsamt der Schutz versprechenden Scheune zum Greifen nah. Eine silberne Eiskruste bildet sich an meinem Stern, bedeckt das das Kennzeichen der Unwürdigkeit. Die Kälte erreicht die Nummer auf meinem linken Arm, erinnert mich an den Namen, den sie mir wegnahmen. Yitzhak, ich heisse Yitzhak und nicht 233541!
Die Arier feiern in ihren Häusern den erste Dezember, Klaviermusik sickert durch die Fenster bis zum Wald. Da werden die Klänge plötzlich lauter, Schritte donnern über Dielen, trappen schließlich gedämpft durch den Schnee. In unsere Richtung!
„… wahr, Hermann“, lacht es amüsiert. „Ich sage dir, der Krüppel hat geschrien wie ein altes Weib.“
„Ich sehe schon, der Posten beim Lagerarzt gefällt dir“, grunzt ein anderer. Sie kommen näher! Flink packe ich dich am Oberarm, zerre daran, bis du deine Aufmerksamkeit von den SS-Leuten nimmst und dich in ein festlich verschneites Gebüsch bugsieren lässt.
„Wenn du wüsstest. Der Verrückte will unbedingt alle Skelette behalten, also hat er seinem Juden aufgetragen, ein Feuer im Hof zu machen und die Deformierten, Schwachsinnigen und Zwillinge auszukochen.“ Nun halten sie inne, öffnen ihren Hosenstall und erleichtern sich an zwei halbgewachsenen Birken.
„Um das Fleisch abzulösen?“, erkundigt sich der zweite, hörbar angeheitert.
„Jawohl, wie bei Suppenfleisch.“ Ich identifiziere ihre Umrisse gegen das Licht des Hauses, einer ist knapp eineinhalb Köpfe größer, dafür nur halb so breit. „Das war ja das Lustige, Hermann. Ein paar Juden, die mit ihren Schubkarren rumgammelten, haben sich nämlich darauf gestürzt wie Schweine auf einen Trog“, er prustet und als mir dämmert, was er gerade gesagt hat, wird mir speiübel. Du zuckst zusammen und ich erkenne sofort die Anzeichen: Deine Augen und Nüstern weiten sich, deine frühere Stärke scheint in dir aufzuflackern und nach einem Ausweg zu suchen. Mir bleibt keine Zeit darüber nachzudenken, ob und was ich tun kann, es ist mir ohnehin unmöglich, dich vor dem Zusammenbruch abzuhalten, ohne entdeckt zu werden.
„Ich liebe dich, Bruder“, wispere ich dir zu und laufe gen Westen davon. Dann schreist du los.
„Efim“, keuche ich im Takt meines Galopps. „Efim, oh, Efim!“ Ich bin kein feiger Mann, ebenso kein Held, aber für meine Familie habe ich gekämpft. Mit Gewalt mussten sie mich von Mutter wegzerren, für Papa gab ich Brot und Wasser. Dich Efim, muss ich meinetwillen aufgeben. Meine Füße versinken im Schnee, deine Sirenen verklingen im sterilen Frost.
„Halt!“, brüllt es hinter mir, ein sattes Klicken tönt gefährlich. „Bleib stehen, Jude!“ Ich rase weiter, hindurch zwischen gespenstischen Birken, weg von dir, deinem kläglichen Jaulen. Wohin? Wohin?!
Krachend zischt die Kugel einer Luger P08 unter dem Winterhimmel, jeder im Lager kennt das Geräusch, es wird stets von gesenkten Häuptern begleitet. Du verstummst sogleich, warst ohnehin nicht mehr derselbe.