Das kleine Städtchen war in den typischen morgendlichen Dunst gehüllt, der zu dieser Tageszeit durch so viele Städtchen zieht und sie besonderer erscheinen lässt, als sie es jemals sein könnten. Manchmal kam es ihm so vor, als hätte er sie alle schon gesehen, als wäre er in seinen Träumen durch sie hindurchgelaufen, ohne sie wahrhaftig begriffen zu haben und so blieb dennoch die Neugierde zurück, welche stetige Begleiterin auf jeder Reise ist. Der Polyester seines Hemdes knisterte leise, als er sich in seinem Campingstuhl aufrichtete, um besser über die Brüstung sehen zu können und für eine Weile schweigend den Menschen zuzusehen, die gedankenverloren vorbeieilten. Von hier oben wirkten sie winzig und obwohl es ihnen nicht immer klar war, waren sie das auch. Winzige und unbedeutende Organismen, die ihren Teil zur Formung dieses Planeten beitragen und trotzdem nie wirklich an Substanz gewinnen würden, zumindest nicht durch ihre vergeblichen Bemühungen um Wert und Sinn.
Es gibt 7.2 Milliarden von uns, dachte er sich uns wusste, dass es drei Lebenszeiten dauern würde, diese denkenden Tiere zu zählen, Zeit, die niemandem von uns vergönnt war. Just in dem Moment begannen die prächtigen Glocken mit ihrer Morgenmelodie und bedeuteten all denjenigen, die zu ihren Füssen spazierten, dass der Tag begonnen hatte, das Leben erwachen sollte und die flüchtigen Momente für niemanden von ihnen stehen bleiben würde. Er drehte sich nicht um und es war ihm, als könnten die feinen Härchen in seinem Gehörgang die nächsten dröhnenden Tonwellen bereits erfühlen, lange bevor sie gespielt wurden. Ein tiefer Atemzug erneuerte einige der 10^22 Luftmoleküle in seinen Lungen und erinnerte ihn an den frischen Schnee und die Wintertage seiner Kindheit.
So kurz nur huschen wir durch den Kosmos, erfüllt von Wehmut für die Welt. So kurz nur ist unsere Chance zu etwas emporzusteigen und für uns selbst mehr zu sein, als eine zufällige Anhäufung von Kohlenstoffmolekülen. So wenig Raum bleibt für die Verwirklichung unserer Wünsche und die Überwindung der grössten Ängste, so wenig nur und wir wissen es. Wir wissen um unsere Endlichkeit, um unser Schicksal irgendwann zu erlöschen und dennoch rennen einige, getrieben von einem unsichtbaren Herrn, blind und voller Wut durch dieses Wunder, dessen besondere Gewöhnlichkeit sie nicht mehr wahrnehmen wollen.
Die Glocken verstummen und in dem Moment der Stille schien es ihm, als würde sich der Kirchturm wie ein mächtiges Schiff durch den Nebel schieben und eine Schneise von Verwüstung hinter sich lassen. Es war ein Katzenjammer, eine Schande und ein qualvoller Verlust, das Universum nicht für das lieben zu können, was es ist. Reine Verschwendung, die Augen von dem abzuwenden, was reale Erfüllung schenken könnte und sich stattdessen an düstere Geschichten zu klammern, an deren Anfang und Ende immer Verderben steht. Fabeln, die den Menschen für seine Fähigkeit Fragen zu stellen und seine Begeisterung für Kunst, Wissenschaft und Erotik bestrafen und dennoch unbedingte Liebe fordern. Trotzdem war es ihm unmöglich, die Kirchgänger, deren hölzerne Sohlen auf den Stufen klapperten mit Mitleid, oder gar Missachtung, im Herzen zu betrachten. Er selbst wusste, wie einfach es war, der ungeheuren Bedeutungslosigkeit mit Verzweiflung entgegenzutreten und nach einfachen Antworten zu suchen. Denn wenn es weder Plan noch Sinn gibt liegt die Verantwortung alleine bei uns, uns über unsere eigenen Grenzen hinwegzusetzen und dieser Aufgabe fühlte nicht jeder gewachsen und so wenden sie sich an diejenigen, die sie in ihren Netzen gefangen halten wollen.
Traurig wendet er seinen Blick geradeaus, in den verhangenen Himmel, hinter dessen Wolken Sterne und ferne Galaxien warten, währendem er dem leisen Murmeln derjenigen lauscht, welche die Schönheit der Realität als Bedrohung für ihre Menschlichkeit verkennen. Doch er blieb nicht lange bitter, denn zwischen all dem Leid, der Hetze und den Alpträumen leuchtet die Möglichkeit auf Glück. Keine Illusion davon, keine erdachte Fata Morgana, sondern echtes und ungetrübtes Glück, wenn die reine Freude an der unwahrscheinlichen Einzigartigkeit erkannt wird.
Wir selbst sind, da war er sich sicher, ein Universum von Atomen, eine flüchtige Erscheinung der Zeitgeschichte, deren Besonderheit einzig und allein darin liegt, dass wir diese Tatsache begreifen können.
Wir liegen in der Mitte von Plank-Einheiten und Lichtjahren, beobachten ohne sie jemals berühren zu können und dennoch haben wir Wege gefunden, ihnen mit unserem Verstand nahe zu sein. Wir sind Alice im Wunderland, doch statt dem Zaubertrank stehen Mikroskope und Teleskope im Hasenbau für uns bereit, die uns erlauben, das Universum so zu erfassen, wie es noch niemand vor uns getan hat und reflektierende Zeugen unserer Zeit zu sein. In dem kurzen Moment, der uns bisher vergönnt war, haben wir nicht nur unsere Hoffnung behalten, wir haben sie auch selbst miterschaffen und das war für ihn Grund genug, mit Frohmut auf die Pilger zu blicken, die wie ein plätschernder Bach in die Kirche strömten.
Sie mögen vielleicht eine andere Erklärung für die wundersamen Dinge dieser Welt erfunden haben, dennoch sind sie Teil davon und ein lebendes Monument der menschlichen Vorstellungskraft, die unserer Spezies das Überleben ermöglicht hatte. Und nun, während diesem Blinzeln der Zeitenchronik, haben wir gelernt unsere Fantasie und unsere unstillbare Neugier nicht nur in die Kunst und Literatur, sondern ebenso in die Wissenschaft, die Erforschung der Welt und uns selbst zu leiten.
Die Messe war in vollem Gange und durch die schräg gestellten Buntglasfenster drangen gewaltige Orgelklänge, die ihm früher schwer auf der Brust gelastet hätten. Doch nun war er frei von alledem, stand irgendwo zwischen dem Nebel und dem Himmel, neben den Glocken, die einst sein Dasein erdrückten. Er wünschte sich, er hätte diese Freiheit schon viel eher erfahren, doch er grämte sich nicht ob der Vergangenheit, sondern freute sich, dass der Dunst sich verzog und er nach dem langen Winter in die Ferne blicken konnte. Was er sah, mochte zuweilen furchteinflößend sein, so überwältigend weit und umwerfend chaotisch, dass jedes Muster wie eine wunderhafte Entdeckung schien. Doch er war nicht alleine und wenn er ganz leise war, dem Blut in seinen Ohren lauschte, das die Zellen seines Körpers mit Nahrung versorgte, fühlte er die Verbindung zu der Welt in der wir leben und den Wesen, die dasselbe Potential mit ihm teilen. Und manchmal konnte er sie verstehen, die braven Leute, die in der leeren Gotteshalle stillschweigend um Verständnis beteten und sich bedankten, denn auch er suchte nach Wahrheit, auch er war dankbar. Was, wenn nicht das Streben nach Wissen und uneingeschränkte Dankbarkeit, soll unserem Geist in der Zeit verankert halten?
Seufzend wandte er seine Augen vom Ausblick über das flache Land ab, hob seinen Campingstuhl an der Armlehne auf uns machte sich darauf gefasst, sich in wenigen Minuten mit seiner Familie auf den Stufen zur Kirche zu treffen. Sie würden ihn missgünstig betrachten, ihn bemitleiden und annehmen, er wäre nicht mehr rein und zur aufrichtigen Ehrfurcht nicht fähig. Natürlich würde er lächeln und sein Bestes geben, ihnen diese Sorge zu nehmen, obwohl er um die Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens wusste. Denn wie nur könnte er seine Sicht auf die Welt erklären? Wie sollte er seine ungebändigte Bewunderung für die fantastische Reise, die wir Leben nennen, in Worte fassen? Kein Gedicht, kein Sonnet, kein Aphorismus konnte jemals die Grenzen des isolierten Verstandes brechen und ausdrücken, wie wundervoll die natürliche Realität unseres Planeten, unserer Galaxie, ja unseres Universums war.
Also würde er einfach nur lächeln und hoffen, dass jemand in seinen Zügen die pure Glückseligkeit erkennt, die er empfindet, wenn er an die unbeschreibliche Großartigkeit denkt, deren Ausmaße wir noch nicht einmal annähernd verstanden haben und mit jedem Tag weiter entdecken. Irgendwann, dachte er sich, währendem er die ersten Schritte tat und den Kirchturm verließ, würde einer dieser 7,2 Milliarden Menschen mit ihm zusammen in der Suche nach den aufrichtigen Wundern der physischen Welt ertrinken und verstehen, wohin die Reise geht, solange, bis auch seine Zeit abgelaufen war.