Die morgendlichen Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg durch die Wolkendecke, zauberten flackernde, wirbelnde Lichtpunkte in die staubige Stallluft. Zina das Zebra schnaubte verschlafen und schüttelte sich dann ausgiebig, ehe sie ihre schwarzen Nüstern aus dem Fenster rekte. Sie war erst wenige Tage hier, hatte allerdings bereits gelernt, dass sie am Morgen meist die erste war, die dem Träumen überdrüssig wurde. Die anderen Bewohner dieses ihr fremden Ortes schlummerten lieber länger, was Zina dem Zebra nichts ausmachte, immerhin konnte sie dadurch einige ruhige Minuten verbringen. Der Mann, der sie im Zirkus abgeholt hatte, erzählte ihr auf dem Weg zum Trailer, er brächte sie an einen wundervollen Flecken der Erde, wo es keine Sorgen gäbe, auf einen Gnadenhof. Zina das Zebra hatte schon als Fohlen Gerüchte darüber gehört, jedoch nie daran geglaubt, es gäbe so etwas wirklich. Es war ohnehin stets dasselbe, sinnierte sie und nahm einen kleinen Bissen Heu, der sich auf ihrer Zunge stachelig anfühlte. Egal wo man war, im Zoo, im Zirkus, ja, selbst in der Savanne, überall schwärmten alle von einem Ort, der besser war. Wenn es eines gab, das Zina das Zebra in ihrem langen Leben gelernt hatte, war es, dass sie nirgendwo hingehörte.
„Guten Morgen, Zina“, flötete Henrietta der Haflinger im Vorbeigehen. Die Gestreifte erschrak sich ein wenig und betrachtete den breiten Hintern ihrer neuen Stallkameradin, als diese zum Futtertrog spazierte. Ihr helles, karamellfarbenes Fell stand ihr an den Flanken ab, wohl weil sie auf der Seite liegend geschlafen hatte. Zina das Zebra hatte bislang noch nie einen Haflinger gesehen, sie waren viel kleiner, als die anderen Pferde, die sie kannte. Auf den ersten Blick war sie hoffnungsvoll gewesen, in Henrietta dem Haflinger vielleicht endlich eine Verbündete zu finden, jemanden, mit dem sie sich darüber austauschen könnte, wie es war, nicht hineinzupassen. Mittlerweile zweifelte sie leider daran, zumal ein Haflinger nun eben ein Pferd und kein Zebra war. Ach was soll’s, dachte sie und tauchte ihre Nase erneut ins Heu, alleine kam sie eigentlich ganz gut zurecht.
„Hallo Zina, willst du mit uns frühstücken?“ Holly der Hannoveraner und Hanna der Holsteiner schlenderten an ihre offene Box und sahen sie erwartungsvoll an. „So können wir uns besser kennenlernen“, meinte die eine und die andere nickte bekräftigend. Eine Weile überlegte Zina das Zebra, wog das Für und Wider des augenscheinlich freundlichen Angebotes ab. Schlussendlich schüttelte sie den Kopf.
„Nein danke, ich möchte hierbleiben.“
„Ach, na dann, wir sehen uns später“, erwiderte Holly der Hannoveraner mit einem enttäuschten Lächeln, dann trotteten die beiden Pferde von Dannen.
Später sah sie Frank den Friesen zusammen mit Horst dem Holsteiner in ein Gespräch vertieft auf dem Weg zur Koppel. Ihnen stand der Sinn vermutlich nicht nach Frühstück. Freilich könnte es genauso daran liegen, dass sie Zina das Zebra mieden und deshalb einen Bogen um die Futterstelle machten. Das war ihr des Öfteren passiert und sie hatte sich inzwischen daran gewöhnt. Es gab einfach Pferde, die nichts mit ihr zu tun haben wollten. Als junges Zebra hatte sie die Energie gehabt, sich über solche Dinge aufzuregen, ihrer Kränkung Gehör zu verschaffen, heute nahm sie es schweigend hin. Naja, meistens jedenfalls, denn ab und an kam es zu unangenehmen Zwischenfällen, die Zina das Zebra nicht aussitzen konnte. Einst im Zoo zum Beispiel, musste sie sich ihr Domizil mit Ziegen teilen, die ernsthaft gehässig und böswillig waren, ihr das ganze Futter weggefressen haben und das über Wochen hinweg, bis der Tierpfleger endlich bemerkte, wie schlecht es um sie stand. Im Zirkus war es besser gewesen, wenn auch nicht gerade märchenhaft, zumindest bekam sie genügend Pellets und hatte einen Wagen ganz für sich alleine, obschon niemand ein Wort mit ihr wechselte. Die Pferde dort taten so, als gäbe es sie nicht, stolzierten vor ihr herum und ignorierten jeden ihrer Versuche, sich mit ihnen anzufreunden. Damals war Zina das Zebra zum Schluss gekommen Zebras und Pferde würden schlicht nicht zusammenpassen, niemals auf Augenhöhe stehen. Pferde waren stolze, anmutige Tiere, denen von Geburt an alle zujubelten, die alleine wegen ihres Pferdseins geliebt und anerkannt wurden. Zebras hingegen, waren klein mit einer abfallenden Kuppe und großen Ohren. Nein, das passte nicht.
„Hey, wer bist du denn?“, fiepte ein Stimmchen. Zina das Zebra sah von ihrem trockenen Mahl auf, konnte allerdings niemanden entdecken. Verwirrt drehte sie sich einmal um die eigene Achse, schaute nach links, rechts, hinten und vorne. Da war niemand. „Hier unten“, erläuterte das Stimmchen schlussendlich belustigt. Und tatsächlich, da hockte ein kleines, graues Tierchen mitten auf dem Stallflur und grinste sie mit wackelnden Schnautzhärchen an.
„Oh, hallo“, stotterte Zina das Zebra, machte einen Schritt auf das zwergenhafte Wesen zu und streckte ihren kurzen Hals in seine Richtung. „Ich bin Zina das Zebra.“ Es kostete sie einiges an Überwindung, mit dem Fremden zu sprechen, nicht nur deshalb, weil er komisch aussah, sondern weil sie gelernt hatte, die Reaktionen anderer zu fürchten.
„Freut mich, ich bin Ari.“ Der Winzling blinzelte erfreut und winkte Zina dem Zebra ungestüm zu, bevor es sich erkundigte: „Und, woher kommst du?“ Ein dicker, ekliger Kloß formte sich in ihrer Drosselrinne. Sie hasste diese Frage, hörte den missbilligenden, geringschätzenden Unterton darin. Die schlecht verborgene Anschuldigung, nicht hierhin zu gehören. Viel schlimmer war, dass sie keine gute Antwort darauf wusste, denn was sollte sie schon sagen? Aus dem Zoo? Aus dem Zirkus? Der Savanne? Das waren alles Orte, an denen sie gelebt hatte und die doch nie ihr Zuhause waren.
„Das geht dich nichts an“, blaffte Zina das Zebra kurzerhand und erntete dafür erst einen schockierten, dann einen bitteren Ausdruck.
„Klar“, murmelte Ari … das Tierchen? „Trotzdem, willkommen auf dem Gnadenhof.“ Die Wehmut wurde von einem gutmütigen Ausdruck abgelöst, anscheinend dämmerte ihrem Gegenüber nicht, wie verletzend und vermessen es sich gerade verhalten hatte. Zugegebenermaßen gab es kaum welche, die das begriffen, eine Entschuldigung war das aber noch lange nicht.
„Was bist du?“, wollte Zina das Zebra forscher wissen. Wenn ihr Gegenüber ihr freche Fragen stellen konnte, dürfte sie das ja wohl ebenso. „Du bist kein Pferd.“
„Sagte ich bereits“, begann Ari das Tierchen und deutete dann mit seinen zierlichen Fingerchen auf seine Brust. „Ich bin Ari.“
„Okay“, murrte Zina das Zebra zwischen ihren Zähnen hervor, obwohl sie nicht wusste, was für ein Tierchen Ari war.
„Ich geh mal nachsehen, ob was übrig ist. Kommst du?“ Ari das Tierchen schien war komplett blind für das Offensichtliche, dachte die Angesprochene verärgert, es hatte keinen Schimmer, wie unhöflich es gewesen war, ansonsten bäte es sie nicht zum gemeinsamen Frühstück. Vollkommen verständnislos für die fehlende Einsicht, verneinte Zina das Zebra und drehte dem anderen den Hintern zu.
„Na dann, dein Verlust“, meinte Ari das Tierchen, verabschiedete sich von dem schwarz-weiß gestreiften Hinterteil und zog von Dannen.
Die erste Woche auf dem Gnadenhof neigte sich ihrem Ende zu und Zina das Zebra fand sich bereits besser zurecht. Sie wusste wo sie alles Mögliche finden konnte, vom Futter, dem Misthaufen bis hin zu dem kleinen Raum, in dem der Mensch seine nutzlosen Utensilien aufbewahrte. Das war nicht alles, nein, sie hatte ebenfalls gelernt, welches die Lieblingsplätze der Pferde waren und, viel wichtiger, wo sie sich nie aufhielten. Letztere waren sie Nischen und Winkel, die ihr am meisten zusagten, dort genoss sie die Einsamkeit. Mit richtigem Vergnügen hatte das zwar wenig zu tun, gestand sich Zina das Zebra widerwillig ein, sondern eher mit dem Vermeiden von Unannehmlichkeiten.
Es war Sonntagabend, kurz vor dem Eindunkeln, die Hühner waren auf dem Heimweg vom Feld und bald wird der Mann kommen und Zina dem Zebra befehlen, in den großzügigen Stall zu marschieren. Es graute ihr jetzt schon davor, zwischen Heu, Stroh und den arroganten Pferden eingesperrt zu werden, sich womöglich sogar mit ihnen unterhalten zu müssen. Henrietta der Haflinger sowie Holly der Hannoverander und Hanna der Holsteiner wollten nicht aufgeben und quasselten ständig auf sie ein. „Woher kommst du?“, war noch die freundlichste Frage, die sie ihr stellten. Neulich haben sie Zina das Zebra allen Ernstes auf ihre Streifen angesprochen, einfach so, ohne das geringste Anzeichen von einem schlechten Gewissen! Soweit war dieser vermaledeite Gnadenhof verkommen, nach außen hin hübsch und geräumig, gegen innen zerfressen von offenkundiger, schamloser Diskriminierung gegen alle, die nicht dem dort herrschenden Standard entsprachen. Je näher die Rückkehr in den Stall kam, desto mehr regte sich Zina das Zebra auf, steigerte sich regelrecht in ihre Wut hinein, bis die Verzweiflung sie übermannte.
„Alles wäre so viel schöner“, dachte sie, während sie sich eine Träne verkniff, „wäre bloß ein anderes Zebra hier.“ Allein ein Zebra könnte die komplexen Probleme verstehen, mit denen sie sich Tag für Tag herumschlagen musste. Weder von den Pferden, noch von den Hühnern und erst recht nicht von Ari dem Tierchen konnte sie diese Einsicht erwarten. Zudem fände sie es tröstlich einen Gefährten zu haben, der ihr Halt und Unterstützung böte, vielleicht brächte sie dann den Mut auf, den vorlauten Pferden die Stirn zu bieten. Zu gerne würde Zina das Zebra laut brüllen „Seid ihr noch ganz bei Trost?! Meine Streifen sind heilig!“, wenn einer der zutiefst herabsetzenden Kommentare geäußert wurde. Ohne Rückhalt von einem anderen Zebra, jemandem, der ihre Sorgen und Nöte nachvollziehen konnte und hinter ihr stünde, sah sich Zina das Zebra auf verlorenem Posten.
„Zina“, vernahm sie die raue Stimme des Menschen. Vergeblich zog sie sich weiter in ihr Versteck hinter dem Werkzeugschuppen zurück, sie war zu spät, er hatte sie längst entdeckt. „Da bist du, altes Mädchen. Komm, es ist Schlafenszeit.“
„Lass es, Henrietta“, flüsterte Quinn das Quarter Horse, aber Zina das Zebra konnte ihre Worte dennoch ausmachen. Sie sprachen über sie, soviel war ihr klar. Weshalb flüsterten sie sonst und steckten ständig die Köpfe beschämt ins Heu, sobald sie sich ihnen zuwandte? „Sie will halt nicht.“
„Ich find’s traurig“, gab Holly der Hannoveraner zu Bedenken. „Sie frisst nicht mal ordentlich.“ Nun bestand kein Zweifel mehr daran, es gibt eindeutig um Zina das Zebra. Was wollten diese blöden Gäule von ihr? Was für eine Anmaßung, dachte sie sich auf der Unterlippe kauend, die Höhe! Dieses pseudo-soziale Getue war ihr schon früher auf den Nerv gegangen, wie damals, als sie im Zirkus gelebt hatte. Es gab stets einige, die für den schönen Schein so taten, als interessierten sie sich für ihre Streifen, schlussendlich lief es gleichwohl darauf hinaus, dass man sich über sie lustig machen wollte. Einige besaßen sogar die Unverschämtheit, sich mit ihren Streifen zu brüsten, damit anzugeben, eine exotische Freundin zu haben. Nein, dafür war sich Zina das Zebra zu schade, es war ihr sogar lieber, wenn jemand sie anfeindete. Diese Art von Aggression war wenigstens direkt, ungeschönt und sie konnte darauf reagieren.
„Das ist absolut albern!“, stieß Horst der Holsteiner laut aus und riss Zina das Zebra damit aus ihren Gedanken. „Ich geh rüber.“ Sie erschütterte, sah sich nervös im Stall um und überlegte fieberhaft, ob es einen Ausweg gab, eine Möglichkeit der Konfrontation zu entgehen. Selbst wenn ihr ehrliche Angriffe genehmer waren, als hinterhältige, hatte sie absolut keine Lust, sich mit dem Nussbraunen zu streiten und das noch dazu vor den anderen.
„Zina?“ Ari das Tierchen klang besorgt, putze sich die rosa Schnauze und legte danach ein Pfötchen auf ihren Huf. „Was hast du?“
„Ari, sag mir wie ich hier rauskomme“, flehte Zina das Zebra. Schreckliche Erinnerungen flackerten in ihrem Gedächtnis auf, Erinnerungen an wüste Beschimpfungen, gemeines Gelächter und das Feuer … Es war niemals bestätigt worden, doch Zina das Zebra war sich sicher, der Stallbrand im Zoo hatte ihr gegolten. „Ari, bitte!“
„Immer langsam mit den jungen Pferden. Was ist denn los?“, sagte Ari das Tierchen beschwichtigend, just in dem Moment, als Horst der Holsteiner, gefolgt von Frank dem Friesen und Henrietta dem Haflinger an ihrer Boxentür auftauchten. Wollte er sie jetzt auch der Lächerlichkeit preisgeben? Wieso musste das immer und immer wieder passieren, schoss es Zina dem Zebra durch den Kopf.
„Zina, wir wollten uns mit dir unterhalten.“ Horst der Holsteiner sprach mit dem Ernst und der Dringlichkeit in seiner Stimme, welche sie deutlich als Vorboten unzähliger Sticheleien und Angriffe zu erkennen glaubte. „Wir möchten, dass du dich wohlfühlst und würden ger…“
„Lasst mich in Ruhe!“, schrie Zina das Zebra und erschrak damit nicht allein die edlen Rösser und das undefinierbare Tierchen Ari, sondern vor allem sich selbst. „Ich …“, stammelte sie, leicht beschämt und mächtig verängstigt. „Ich tue euch schließlich nichts.“
„Zina“, begann Henrietta der Haflinger zögerlich, „du verstehst das falsch.“
„Ach ja?!“ All die Jahre der Ausgrenzung, des Andersseins, der unbarmherzigen Behandlung, die sie überall erfahren hatte, so man sie hingebracht hatte, sprudelten allmählich an die Oberfläche, drohten Zina das Zebra vollkommen einzunehmen. Vorbei war es mit dem Gleichmut, mit dem sie ihr Umfeld zu ertragen versuchte, ja, sogar die Angst verzog sich und machte der Rage endlich Platz. „Ständig reibt ihr mir euer Pferdsein unter die Nase, greift mich wegen meiner Streifen an und jetzt habt ihr die Frechheit zu behaupten, ich verstünde das falsch?!“ Henrietta der Haflinger, Frank der Friese und Horst der Holsteiner sahen sie perplex an, hatten wohl nicht damit gerechnet, dass sie sich zur Wehr setzen würde. Geschieht ihnen recht, dachte Zina das Zebra selbstzufrieden. „Ihr solltet euch was schämen, aber das werdet ihr sowieso nie tun. Nein, ihr seid so privilegiert, merkt nicht einmal, wie schlecht ihr diejenigen behandelt, denen nicht dieselben Vorzüge vergönnt sind. Ihr habt keine Streifen, wie wollt ihr es überhaupt begreifen?“ Zina das Zebra blies verächtlich durch ihre schwarzen Nüstern und schob dann ihren geringen, an der Kuppe abfallenden Körper zwischen den hübschen Pferden hindurch und trabte in die hinterste Ecke des Stalls, um sich abzukühlen.
„Zina“, piepste Ari das Tierchen eine Nuss vor ihre Hufe schiebend. „Ich weiß zwar nicht, was dich so aufgeregt hat, aber ich möchte mich entschuldigen.“ Die Angesprochene drehte sich nicht um, starrte weiter stumm aus dem schmalen Fenster hinaus in die herbstliche Landschaft. Gepackt von Sehnsucht nach einem Ort, den sie weder kannte noch erträumen konnte, seufzte Zina das Zebra tief. Nach ihrem Ausbruch gäbe es wohl keinen Weg, der daran vorbeiführte, auf ewig diejenige zu bleiben, die schlichtweg nicht hierhingehörte. Dieses Mal allerdings, waren es nicht nur die anderen, sondern unter anderem sie selbst, die ihr einsames, fremdes Schicksal besiegelt hatte.
„Zina, hörst du mich?“ Ari das Tierchen wollte nicht lockerlassen, blieb dicht neben ihr stehen, als Tränen aus den dunklen Augen in ihre Streifen sickerten. „Oh, Zina.“
Ein Monat war ins Land gezogen, die Sonne schien kälter und die Nächte kamen jeden Tag schneller. Bald konnte Zina das Zebra kaum Zeit hinter dem Werkzeugschuppen verbringen, also zog sie sich meist in ihrer Box zurück. „Meine Box“, murmelte sie beinahe gänzlich im Heu vergraben, „das klingt seltsam.“ Es hatte zwar viele Boxen, Trailer und Käfige gegeben, auf deren Türen ihr Name stand, ein Zuhause waren sie trotzdem nicht. Die Pferde hatten sie seit dem verhängnisvollen Tag tatsächlich in Ruhe gelassen, mieden sie nun unverhohlen, wechselten sogar die Tränke, wenn sie hinzutrat. Eine Weile war Zina das Zebra unschlüssig gewesen, wie sie die distanzierte Haltung der edlen Tiere einschätzen sollte. Selbstverständlich war sie froh darum, sich nicht mehr ständig die unscheinbaren Hänseleien anhören zu müssen, andererseits kränkte sie der Gedanke, dass die anderen so rasch, so fügsam nachgegeben hatten. Was soll’s, sinnierte sie traurig, es hatte keinen Zweck auf Einfühlungsvermögen und Freundschaft von denen zu hoffen, die nie und nimmer in der Lage wären, ihre Position als Fremde in der Fremde, als Gestreifte in einer monochromen Welt nachzuvollziehen.
„Hey.“ Ari das Tierchen schlenderte an ihrer Box vorbei und hob beiläufig die Hand zum Gruß. Sie war sich nicht sicher, weshalb sie es tat, doch Zina das Zebra fasste sich ein Herz und sagte leise: „Ari, hast du kurz Zeit?“
„Absolut“, kam die prompte Antwort, gemischt mit einem offenen Lächeln auf dem Schnäutzchen. „Was ist denn?“
„Meinst du ich muss lange hierbleiben?“ Diese Frage hatte sich Zina das Zebra schon oft gestellt, nicht erst seit sie in diesem Stall lebte, dennoch fiel es ihr schwer, sie auszusprechen.
„Das ist ein Gnadenhof, Zina, wir bleiben alle bis zum Lebensende hier“, erklärte Ari das Tierchen ruhig.
„Ach“, machte sie das Weinen unterdrückend. Es war schlimmer, als sie gedacht hatte, alle Zuversicht war umsonst gewesen.
„Sag mal, wieso gefällt es dir denn nicht?“ Zina das Zebra haderte mit sich. Sollte sie sich Ari dem Tierchen anvertrauen und das nachdem es so unverschämt gewesen war, sie nach ihren Streifen gefragt hatte?
„Es hat keine anderen Zebras“, murrte sie schließlich.
„Na und?“ Wie konnte ein einzelnes Tierchen so dumm und weltfremd sein, stöhnte Zina das Zebra innerlich. Es half alles nichts, sie müsste es ihm geradeheraus sagen.
„Ich bin völlig alleine, so wie überall“, begann sie ohne Hemmungen vor Ari dem Tierchen. Es war schwierig mit dem Huf darauf zu zeigen, da war irgendetwas an ihm, das Vertrauen weckte, trotz der Unhöflichkeiten. Vermutlich lag es bloß an seiner geringen Größe, Ari das Tierchen wirkte eben nicht bedrohlich. „Jeder braucht Freunde“, wisperte sie und wurde sogleich noch trauriger.
„Wir können Freunde sein“, probierte der Winzling schmunzelnd. „Spricht nichts dagegen.“
„Du bist kein Zebra“, widersprach Zina das Zebra entnervt von der Unwissenheit ihres Gegenübers. „Wie könntest du mein Freund sein? Du weißt nicht einmal, wie es ist, Streifen zu haben.“
„Was haben Streifen damit zu tun?“
„Was für eine blöde Frage!“, stieß Zina das Zebra aus, während Ari das Tierchen sie forschend betrachtete und ein Körnchen in sein Maul schob. „Wurdest du schon mal ausgelacht und getreten, weil du Streifen hast?“, fuhr sie siegessicher fort. Es gab Dinge, scheußliche Dinge, von denen es absolut keine Ahnung hatte.
„Nein“, gab Ari das Tierchen kauend zurück. „Ich wurde ausgelacht und getreten, weil ich klein bin.“
„Das ist nicht dasselbe! Jeder kann klein sein, doch nur ein Zebra hat Streifen und nur ein Zebra kann den Schmerz fühlen, wenn man wegen seiner Streifen ausgegrenzt wird!“
„Wenn du meinst“, tönte Ari gelassen, ließ sich von ihrer Rage nicht anstecken. „Für mich klingt beides allerdings sehr ähnlich, ob klein oder gestreift.“
„Vergiss es, Ari.“ Zina das Zebra scharrte resigniert im Stroh, wollte sich von ihrem nutzlosen Gesprächspartner abwenden, als dieser hinzufügte: „Weißt du Zina, du solltest damit aufhören, dich selbst auf deine Streifen zu reduzieren.“
„Wie bitte?!“, schnaubte die Gestreifte verächtlich. „Schieb das nicht mir in die Hufeisen! Ich bin nicht diejenige, die bloß meine Streifen sieht. Henrietta der Haflinger, Holly der Hannoveraner, Hanna und Horst die Holsteiner, Quinn das Quarter Horse und Frank der Friese sind es, die sich allein für mein Fell interessieren, ständig Fragen dazu stellen und …“
„Moment“, wurde sie von Ari dem Tierchen unterbrochen. „Henrietta, Holly, Hanna, Horst, Quinn und Frank waren neugierig, klar, aber bloß, weil sie dich ehrlich kennenlernen wollten.“
„Das sagen sie alle“, spie Zina das Zebra aus und verdrehte ihre schwarzen Augen.
„Zina, ich verstehe ja, du hast viele schlechte Erfahrungen gemacht“, meinte das graue Tierchen leise und atmete dann tief durch. „Nichtsdestoweniger, es ist schade, wenn du dir und anderen keine Chance geben willst, schöne Erfahrungen zu sammeln.“ Zina das Zebra verstummte, wollte die leidige Diskussion beenden und sich nicht länger dem ewig Selben auseinandersetzen.
„Ja, dann bin ich halt selbst schuld, wenn es euch damit besser geht, dann belassen wir es dabei. Hoffentlich bist du dann ein glückliches Tierchen, Ari.“ Die Bitterkeit troff aus ihren Worten.
„Ich sagte ja, ich bin Ari, nicht das Tierchen Ari, sondern Ari. Du weißt ja, wo du uns findest, wenn du bereit bist, auch einfach nur Zina zu sein.“ Damit verschwand Ari aus ihrem Sichtfeld und sie blieb erst wütend, dann gedankenverloren zurück in ihrer einsamen Box, wo es weder andere Zebras noch Tierchen gab, die sie hätten aufmuntern können.
Es war der erste Morgen, der sich richtig nach Frühling anfühlte und das obschon es tiefster Winter war. Zina schien es, als hätten die Krähen gelernt Lieder zu singen. Ihr Atem rauchte vor den Nüstern, roch nach Heu und getrockneten Wiesenblumen, als sie ihre Hufe vorsichtig vor die Box stellte. Henrietta und Holly standen beim Futtertrog und lachten gemeinsam über dieses oder jenes und da sah Zina zum ersten Mal Henriettas Streifen. Nun gut, es war kein richtiger Streifen, sondern ein Aalstrich, der von ihrem Widerrist bis zum Schweif reichte, aber er war genug, um sie in ihrer Entscheidung zu bekräftigen. Mit gesenktem Haupt trat sie neben die beiden und tauchte die Nase in das körnige Kraftfutter.
„Oh, hallo Zina“, wurde sie von Holly sachte begrüßt und auch Henrietta nickte ihr freundlich zu.
„Meine Streifen sind weiß“, beantwortete sie die gängigste Frage, die sie zu hören bekam. „Die Haut und das Fell sind schwarz.“ Es war das erste Mal, nie zuvor hatte sie dazu Stellung bezogen.
„Zina, es tut uns leid, wir wollten dich damit nicht ärgern. Wir hätten nichts sagen dürfen …“ Henrietta blickte sie beschämt an, hatte wohl endlich eingesehen, dass sie feinfühliger hätte sein sollen. Sie war jedoch nicht die einzige, die eine neue Erkenntnis ihr Eigen nannte.
„Nein, schon gut.“ Zina war unsicher, ob Ari wirklich richtig lag, ob die bösen Absichten der anderen bloß in ihren Gedanken lagen. Vergangene Erfahrungen hatten Zina gelehrt, allein ein Zebra könnte ein Zebra verstehen, sie müsste unter Fremdartigen stets die Fremde bleiben.
„Okay“, erwiderte Henrietta scheu, ehe sie mit einem großen Lächeln einige Pellets vor Zinas Nüstern schob. „Probiere die da, die sind besonders lecker!“
In einem Punkt sprach Ari die Wahrheit: Sie war es leid geworden Zina das Zebra zu sein. Streifen hin oder her, sie wollte die Chance wahrnehmen einfach nur Zina zu sein. Zina, die mit Henrietta, Holly, Hanna, Quinn, Frank, Horst und Ari Schönes erleben darf.
„Stimmt, die sind toll!“