Satoshi knetete nervös auf seinen langgliedrigen Fingern und versuchte vergebens, einen legeren, gelangweilten Eindruck zu vermitteln, als er einige Schritte hinter seinem Vater durch die ordentlich vollgestellten Gänge des Künstlerbedarfsladens schlenderte. Zum ersten Mal seit seinem Abschluss vor beinahe zwei Jahren hatte er sich heute früh dazu überreden lassen, die Wohnung zu verlassen, obwohl die Streiterei am Frühstückstisch weniger mit Überredungskunst, als mit Erpressung zu tun gehabt hatte, aber die Erfahrung der letzten Monate hatte gezeigt, dass Satoshi mit vernünftigen Argumenten nicht mehr zu motivieren war. Hikikomori war das Wort, das sie Menschen wie ihm gaben und die Tatsache, dass sein erbärmlicher Lebenswandel einen Namen hatte, hatte es ihm enorm erleichtert sich einzureden, dass er krank war und somit psychologisch gesehen gar nicht in der Lage gewesen wäre, sein Leben zu verändern; wie hätte man von jemandem mit solch massiven psychischen Problemen auch erwarten können, Verantwortung für sein Handeln, oder in diesem Fall für die lähmende Passivität, zu übernehmen? Doch obwohl seine Tage trist und eintönig waren und Satoshis Schlaf immer mehr vom nagenden, gefrässigen Zweifel und Selbsthass gestört wurde, zog er es vor, sein bislang nutzloses Dasein in der Geborgenheit seines Elternhauses zu verbringen und sich mit der Hilfe von Videospielen in eine phantasievolle Existenz zu flüchten, in welcher er nicht irgendein Verlierer war, sondern ein heroischer Abenteurer, ein hilfsbereiter Charmeur und ein angesehener Intellektueller. Phantasien, welche er sehr zu schätzen gelernt hatte, denn sie boten ihm die wertvolle Möglichkeit, sich seiner beschämenden Realität zu entziehen und endlich das Gefühl zu haben, einen Platz und einen Sinn in dieser Welt zu besitzen.
Nichtsdestotrotz stand der junge Mann nun aufgeregt lächelnd vor einem der hohen Regale und währendem er sichtbar unwohl nach einer Gravurvorlage in Blattform für seinen Vater suchte, ließ ihn dieser keine Sekunde aus den Augen und war hin und her gerissen zwischen der Freude darüber, dass sein Sprössling zumindest einen kleinen Schritt in die richtige Richtung gewagt hatte, und der niederschmetternden Enttäuschung, welche er immer weniger ignorieren konnte, wann immer er nüchtern genug war, um sich der familiären Situation bewusst zu werden. „Kannst du bitte einen Verkäufer holen?“, fragte er betont ruhig, obwohl er die Antwort auf seine kleine Bitte eigentlich schon kannte. Satoshi sah ihn beinahe schockiert an, seine Nasenflügel weiteten sich und sein Vater erkannte die schiere Panik in seinem Gesicht, welche ihn immer zu übermannen schien, wenn er sich mit einer sozialen Interaktion konfrontiert sah. „Ach vergiss es!“, schnaubte er, nicht mehr darum bemüht seinen Frust zu verheimlichen, bevor er mit schwingenden Armen davonmarschierte und Satoshi alleine zurückließ. Dieser stand noch einige Augenblicke regungslos vor den mit einem Farbcode gekennzeichneten Gravurutensilien und wartete darauf, dass ihn sein Vater aus seiner Starre schütteln würde, doch anstelle davon griff eine alte Dame, welche ihn mit einem freundlichen Gruß verschreckte, an ihm vorbei ins Regal. Satoshi hatte nun die Option weiterhin in dem belebten Gang zu verweilen, oder in den hinteren Bereich des Ladens zu flüchten und dort solange so zu tun, als würde er sich für die ausgestellten Kunstwerke interessieren, bis er endlich wieder in seinen sicheren Hafen zurückkehren durfte. Und da sein Beschützer seine akute Not anscheinen für unwichtig erklärt hatte, fiel seine Wahl auf den verlassenen Ausstellungsraum.
Das menschenleere, mit Schaufensterglas abgetrennte Hinterzimmer verströmte den Geruch von erst kürzlich getrockneter Öl- und Acrylfarbe und das gleichmäßige Summen der Klimaanlage beruhigte Satoshis überstrapazierte Nerven ein wenig, als er sich auf einen beigen Ottomanen setzte und betont geschäftig in seiner Umhängetasche nach nichts suchte, um mögliche Beobachter von ihm fernzuhalten. Weitere Minuten vergingen, während denen er ungeduldig abwartete und gerade als er sich darum bemühte, zumindest geistig in seine geliebte Fantasiewelt abtauchen zu können, entdeckte er die Ziege. Sie hatte ein kurzes, etwas struppiges graues Fell und unter der schwarzen Nase konnte man ihre rosa Zunge erkennen, die sich gierig nach einem Stück Kuchen reckte, welcher auf einem hübschen weißen Gartentischchen platziert worden war. Unter dem ausladenden Sonnenschirm hatte sich eine kleine Teegesellschaft versammelt und sie alle trugen prunkvolle Kleider und ihre Ölgesichter schienen sich so sehr zu amüsieren, dass sie nicht einmal bemerkten, dass im Hintergrund, einige Zentimeter unter der oberen Rahmenleiste, ein Vulkan Rauch in den, sonst so friedlichen, Nachmittagshimmel blies. Satoshi seufzte und dachte sich, wie schön es wohl sein müsste, sich in der Gesellschaft anderer so wohl fühlen zu können, dass man die drohende Gefahr schlichtweg vergisst. Er hielt es für unmöglich, sich jemals ohne die schützende Distanz des Internets so frei unter anderen Menschen bewegen zu können und es fiel ihm schwer sich vorzustellen, ohne den Sicherheitsabstand von LAN-Kabel und Breitband, jemand Fremden auch nur nach der Zeit zu fragen. Er war nicht einer der geladenen Gäste auf der Gartenparty, er war die Ziege, die sich heimlich dazugesellte und ungesehen von den Blicken anderer ihren Teil des Kuchens ergaunerte, ohne auch nur einen Krümel beigesteuert zu haben. Früher war er der Gehörnte gewesen und es gefiel ihm, sich als Opfer seiner Mitmenschen zu sehen, sich selbst immer und immer wieder zu sagen, dass sie es waren, die ihn überhaupt erst zur Ziege gemacht haben und wie unfair es doch im Grunde war, dass sie ihn jetzt dafür verachteten. Er mochte diesen Gedanken, weil er so ein weiteres Mal die Schuld für seinen Zustand wegschieben konnte, weit nach hinten in den gläsernen Ausstellraum in seinem Kopf.
„Magst du die Ziege?“ Satoshi zuckte heftig zusammen und vergaß kurz seinen eisernen Vorsatz, sich seine Ängstlichkeit um nichts in der Welt anmerken zu lassen. Das kleine Mädchen, das sich unbemerkt hineingeschlichen und neben ihn gesetzt hatte, kicherte schrill und zeigte fröhlich auf das ausladende Ölgemälde, währendem sie mit ihren freibaumelnden Beinen wippte. „Ich will auf meiner Party lieber ein Lama haben, aber die Ziege ist auch nicht schlecht“, sinnierte sie im Selbstgespräch und gerade als Satoshi etwas von ihr wegrücken wollte, ergriff sie seine Hand, sprang auf und zog ihn mit ungeahnter Kraft dicht vor die Leinwand. „Siehst du?“, fragte sie ihn eindringlich, als sie auf eine junge Frau deutete, welche etwas in der Hand hielt, das an eine feine Porzellantasse erinnerte. Satoshi war zwar verwirrt, strengte sich aber an zu sehen, was das Mädchen meinte und musste dann doch resigniert mit dem Kopf schütteln. „Dummerchen“, meinte sie mit einem schelmischen Lachen und schüttelte nun ebenfalls den Kopf. „Die anderen mögen die Ziege nicht, aber sie freut sich.“ Und da sah er es: Die Ziege hatte sich mit der furchtlosen Selbstverständlichkeit in den Schatten des Sonnenschirms gestellt, die nur eine sorglose Ziege haben kann, sie hatte sich den argwöhnischen Blicken gestellt und ihr Lohn dafür war nicht der süße Kuchen, sondern das Lächeln der Frau im Reifenrock.
Nachdem Satoshi sich von dem kleinen Mädchen verabschiedet hatte, trottete er etwas zaghaft durch die weitläufigen Gänge des Künstlerbedarfsladens und als er seinen Vater sah, der offensichtlich ratlos vor einem Gestell mit diversen Echthaarpinseln stand, wandte er sich an den Verkäufer hinter der Informationstheke und fragte etwas stammelnd: „Ent… Ähm, Entschuldigung. Ich glaube mein Vater braucht Hilfe, könnten Sie mir bitte zu ihm folgen?“