Mira lehnte sich auf dem staubigen Sessel zurück und beobachtete im Flackern der drei Kerzen Jesses Gesicht, trotz dem Halbdunkel glaubte sie, die Spur eines Lächelns zu erkennen. Ihr Verlobter saß ihr gegenüber auf dem Lehnstuhl und trug, wie bei jedem Stelldichein in den letzten Monaten, sein liebstes rotes Jackett. Wählerisch konnten sie beide nicht sein, seit sie das Ende der Zivilisation erlebt hatten und in einer Welt existierten, die von wandelnden Toten regiert wurde. Doch Erfahrung damit, sich heimlich wegzuschleichen, hatte Mira schon damals gesammelt, als die Menschheit noch nicht am Rand der Ausrottung gestanden hatte. Ihre beiden Familien, die im selben Quartier wohnten, hatten sich bereits vor Jahren zerstritten – selbstverständlich wegen ihrer verschiedenen konservativ-religiösen Weltbilder, in denen eine Liebe zwischen ihren Kindern keinen Platz hatte. „Ich hätte nie gedacht, ich könnte den ganzen prätentiösen Kram meiner altbackenen Eltern vermissen“, murmelte Mira. „Porzellan, Gabelfrühstück, Kronleuchter, Tee im Lesesaal – ich habe ja jeweils ein Spiegelei auf Toast vorm Fernseher bevorzugt, eher so, wie deine Familie es gehandhabt hat. Wenn ich mir überlege, wie oft wir uns damals im Pavillon im Park getroff…“, mit einem Seufzen unterbrach sie sich, als ein Röcheln von der Straße erklang und durch die verbogenen Rollladen der Schatten einer strauchelnden Gestalt auf die Rückwand des ehemaligen Geschäftslokals fiel. „Hier sind wir in Sicherheit vor ihnen. Wie viele dieser Monster sind wohl diese Nacht auf der Straße unterwegs?“, sinnierte sie, wohl wissend, dass sich die Untoten meist am Morgen zerstreuten und sie auch nach diesem Date sicher in ihr befestigtes Camp zurückkäme. Ihre Mutter und ihr kleiner Bruder waren alles, was ihr noch von ihrer Familie geblieben war.
Jesse brummte etwas, das nur Mira verstehen konnte und sie lachte leise. „Ja, wir waren wie Romeo und Julia, Liebende aus zwei verschiedenen Welten. Jetzt sind die Welten verschwunden, es gibt nur noch uns.“ Mira erhob sich, um eine Dose Vanillecreme aus ihrem Rucksack zu holen, den sie auf einem Schreibtisch deponiert hatte, eine Rarität aus der alten Zeit. Erneut gab Jesse ein Geräusch von sich, das nur sie verstand und sie bestätigte: „Natürlich, ich habe einen Löffel mitgebracht, Schatz, wir werden uns sicher nicht an der Dose verletzen. Fast wie früher.“ Nach einigem Wühlen im Halbdunkel gab Mira ein erfreutes Geräusch von sich, nahm den Dosenöffner zur Hand und machte sich daran, die Leckerei zu öffnen. „Es ist schade, lebst du in diesem verlassenen Laden zwischen Auslegeware, Laminat und Postern, die für Trittschalldämmung werben und ich mit dem Rest meiner Familie im Camp, nur weil sie dich trotz der Apokalypse nicht aufnehmen würden, wie kann man nur so stur sein? Wir sollten uns mehr sehen, vielleicht verlasse ich sie ja und ziehe hier bei dir ein, wenn sie sogar meinen Verlobten verstießen, haben sie mich ja wohl kaum verdient, oder? Was meinst du, würde es dir gefallen, zusammenzuziehen?“
Jesse grummelte zustimmend, was Mira zum Lächeln brachte. „Ich bin so froh, Schatz – endlich sind wir vereint. Ich werde ihnen gleich morgen früh eine Notiz schreiben, meine Sachen packen und mich auf den Weg hierhin machen, wir können uns auch zu zweit durchschlagen!“ Freudig trat sie mit einem Löffel voller Vanillecreme vor ihn. „Das war die letzte Dose. Ich habe sie extra für uns aus dem Vorratslager geklaut und …“ Mit einem entsetzten Aufschrei unterbrach sich Mira, ließ Löffel und Dose fallen. Sie taumelte zurück, stolperte über eine auf dem Boden liegende Tastatur und fiel hin. „Jesse, wieso?“, wimmerte sie und starrte auf ihre Rechte, wo eine blutige Bisswunde klaffte, ihr Geliebter hatte ein großes Stück Haut abgerissen, das nun zwischen seinen Zähnen hing und glotzte sie an. Es dauerte einige Sekunden, bis die Schmerzen einsetzten, begleitet von einem starken Pochen, das ihr ein gepeinigtes Winseln entlockte.
Die Pein begann, ihre geschaffene Realität zu zerreißen und mit Entsetzen sah Mira den toten Körper ihres Geliebten, der mit einem Seil an dem staubigen Sessel festgebunden war. Sein entstelltes Röcheln, das Röcheln, das nur die wandelnden Toten von sich gaben, brach endgültig den Damm, der ihre Erinnerungen zurückgehalten hatte. Zum ersten Mal seit Monaten durchlebte Mira wieder die Nacht, in der die Pandemie ihre Kleinstadt erreicht hatte. Wie sie und Jesse bei ihrem Date von einer Horde Untoter überrannt worden und in dieses Geschäft geflüchtet waren. Wie sie den Biss an Jesses Hals entdeckt hatte und er im Laufe der nächsten Stunden langsam starb. Wie er sich am Sessel festgebunden hatte, wohl wissend, was ihn nach dem Tod erwartete, und sie beschworen hatte, schnell zu verschwinden. Wie sie es nicht übers Herz gebracht hatte, ihn aus seinem Elend zu erlösen und ihn besuchte …
Schluchzend zog sich Mira an einem Schreibtisch hoch und ließ sich in ihren Sessel fallen. Wie hatte sie sich nur so lange vormachen können, dass er noch lebte, dass sie ihn traf? Ihre Dates der vergangenen Monate, sie waren alle nur Einbildungen, falsche Erinnerungen daran, wie sie mit einer röchelnden Leiche in einem Raum gesessen und geflirtet hatte. „Jesse, es tut mir so leid“, flennte sie und ihr Blick fiel wieder auf die Bisswunde – erst jetzt begriff sie die Tragweite des Vorfalls. „Bald bin ich bei dir“, murmelte sie, sie wusste, es gab für sie keine Heilung, keinen Ausweg mehr. Sie waren wie Romeo und Julia gewesen, hatten sich schon vor der Pandemie heimlich getroffen und jetzt sollten sie auch im Tod vereint sein, dachte sich Mira und wischte eine Träne aus dem Augenwinkel, während sie sich fiebrig zu fühlen begann. „Wie poetisch“, schnaubte sie resigniert. Erschöpft schloss sie die Augen, nur kurz, ein Wimpernschlag, und mit einem Mal begriff sie: Alles würde gut. Als sie wieder hinsah, konnte sie erneut Jesse erkennen, nicht das untote Monster und sie lächelte glückselig. „Ich verstehe“, wisperte sie. „Ich habe dich gefragt, ob wir zusammen sein wollen und du hast mir geantwortet. Wir werden nun zusammen sein, für immer und ewig.“ Die Welt um sie herum verschwamm langsam, bislang nur an den Rändern ihres Gesichtsfeldes, aber sie wusste, bald wäre sie bei ihm.