Sie rannte, rannte so schnell ihre schwachen Beine sie tragen mochten. Die Straßen waren leergefegt, der Himmel grollte düster, wenn nicht bedrohliche Blitze die Nacht für einige Atemzüge zum Tag machten. Noch stand der Zytglogge-Turm, die Lauben krachten nicht nieder, dienten dem Wind als Tunnel, leiteten ihn durch die Gassen wie ein Flussbett. Wenn es so weiterginge, wäre bald die ganze Stadt dem Untergang geweiht, zusammen mit ihr all die armen Seelen, die es nicht rechtzeitig in Sicherheit geschafft hatten. Es war nie ihre Intention gewesen, die Erde zu zerstören, dennoch war sie mitunter dafür verantwortlich, hatte jeden Tag ein winziges Stück dazu beigetragen. Und jetzt wusste sie nicht, wohin sie fliehen sollte. Ihr Daheim im Mätteli-Quartier lag seit Tagen unter Wasser, war von der Aare geradezu verschluckt worden. Erneut zuckte ein Energiebogen über das Firmament, ließ die schwarz-graue Wolkendecke in unheilvollem Cyanweiß aufleuchten. „Ich kann nicht mehr!“, dachte sie, erfüllt von Verzweiflung und Schmerzen. Ihre Muskeln waren übersäuert, ihr ganzer Körper schlotterte unter der regengetränkten Kleidung und ihr Wille war kurz davor zu brechen. Doch gerade als sie sich von ihrem Leben verabschieden wollte, entdeckte sie das dämmrige Licht einer Petrollampe. Ein Peitschenhieb der Hoffnung verlieh ihr Kraft, als sie ihre Schritte beschleunigend in das Schlüsselgässchen einbog.
„Helft mir, bitte!“, keuchte sie an die Tür des Kellerrestaurants hämmernd, über welcher der Docht eines Lämpchens schwelte. „Bitte, bitte, bitte macht auf!“ Tatsächlich erwärmte sich jemand der Gnade, öffnete die Tür für sie. Beim Eintreten konnte sie kaum etwas erkennen, bloß eine Silhouette, eingehüllt in dunkles Tuch.
„Du Ärmste, bist völlig durchweicht“, drang die Stimme einer alten Frau durch den Schleier aus Erschöpfung zu ihr durch. „Komm rein und setz dich hin, ich hole dir ein Handtuch.“ Widerstandslos ließ sie sich die Treppe hinunter zu einer Eckbank führen und fiel sogleich auf das Polster. Sie presste ein heiseres „Danke“ aus ihrer Kehle, ehe sie in Ohnmacht fiel.
Zum Klang eines Teekessels wachte sie auf. Es roch nach getrockneten Blumen und Hauskatze. Nach wenigen Sekunden der Verwirrung schoss sie empor, nur um danach matt sitzenzubleiben. Der kleine unterirdische Raum wurde von einigen Kerzen und dem kaltweißen Leuchten eines Tablet PC erhellt. Auf letzterem spielte leise ein Pianolied, augenscheinlich hatte sein Besitzer die Nase voll von den üblichen Nachrichten über die Katastrophe, welche dank Dieselgeneratoren wohl noch ewig gesendet würden.
„Hallo …?“, versuchte sie es zaghaft röchelnd. Niemand antwortete, sodass sie sich zu fragen begann, ob man sie zurückgelassen hatte, ohne sie aus der Stadt geflüchtet war. Angst machte sich ihn ihr breit, zog sie förmlich auf ihre mit aufgeplatzten Blasen übersäten Füße. „Sie wollte zum Ausgang wanken, verschwinden, leider konnte sie weder ihren Rucksack noch ihre Schuhe finden. Hallo?“, fragte sie nun lauter, aber erneut reagierte niemand. Erst in diesem Moment bemerkte sie, dass ihre Kleidung ebenfalls weg war. Sie trug ein hellblaues Hemd, welches ihr beinahe bis zu den Knien reichte, ihre eigene Unterwäsche sowie übergroße Wollsocken, die aussahen, als wären sie vor Dekaden gestrickt worden. So konnte sie unmöglich hinausgehen. Dann, wie aus dem Nichts, fiel ihr ein: Dieses Lokal lag unter der Altstadtgasse!
Hektisch sah sie sich um, marschierte von Angst und Tatendrang gepackt auf die Bar zu, unter welcher sie ihre Sachen vermutete. Die Pianomusik wurde von sanften Gitarrenklängen abgelöst, als sie über die Theke kletterte.
„Oh, du bist wach?“ Die Tür zum Hinterzimmer wurde kaum hörbar quietschend geschlossen und die alte Frau näherte sich ihr mit einem gutmütigen Lächeln auf den Lippen. „Ich habe Tee gekocht, also lass uns trinken.“
„Entschuldige“, murmelte sie, beschämt darüber, beim Herumschnüffeln erwischt worden zu sein. „Ich wollte meine Sachen …“
„Kein Problem“, meinte ihr Gegenüber und deutete ihr, sich auf einen der Barhocker zu setzen, ehe sie erklärte: „Ich habe deine Sachen hinten zum Trocken aufgehängt.“
„Oh, danke.“ Es war ihr unangenehm, der Fremden zur Last zu fallen, sie überhaupt um Hilfe gebeten zu haben, dennoch nahm sie die randvoll gefüllte Tasse gierig entgegen. Seit über als drei Wochen hatte sie nichts Warmes in ihren Magen bekommen und der erste Schluck fühlte sich einfach herrlich an.
„Ich bin übrigens Nadine“, stellte sich die Grauhaarige noch immer lächelnd vor und wartete vergeblich darauf, dass ihr spärlich bekleideter Gast es ihr gleichtat. Sie hakte nicht nach, sondern fuhr fort: „Darf ich dich fragen, weshalb du noch in der Stadt bist?“
Zögerlich blickte die Angesprochene von ihrem dampfenden Getränk auf, druckste eine Weile unverständlich herum, bis sie schließlich flüsterte: „Ich wollte meinen Hund suchen, er ist in der Massenpanik der ersten Tage weggerannt.“ Egal, wie sehr sie sich bemühte, vermochte sie trotzdem nicht die Tränen zurückzuhalten. Selbstverständlich war es ihr fürchterlich peinlich, um ihren vierbeinigen Begleiter zu weinen, schließlich hatten viele Leute während den Unruhen ihre Angehörigen verloren. Aber Karl war ihre einzige Familie und ihn zu vermissen war für sie ebenso schmerzhaft.
„Das ist ja furchtbar“, entgegnete Nadine verständnisvoll und legte eine tröstende Hand auf ihre Schulter. „Weißt du denn, wo er hingelaufen sein könnte?“
„Nach Hause.“ Kaum hatte sie das erwähnt, schluchzte sie los. Wäre er tatsächlich zu ihrer Wohnung gegangen und hätte er sich unter der Veranda versteckt, wie er es tat, wenn die Nachbarskatze mal wieder böse zu ihm war, wäre er bestimmt ertrunken. Nadine lief schweigend um die Theke herum und nahm sie in die Arme, wie ihre Großmutter das getan hätte.
Die Musik spielte nicht mehr, der Tee war ausgetrunken, die Kerzen beinahe abgebrannt und wieder einmal fand sie sich zwischen Trauer und Schuldgefühlen. Hätte sie die Warnungen nur ernstgenommen, dachte sie wütend auf sich selbst. Jahrelang war sie mit ihrem Geländewagen herumgefahren, hatte Rindfleisch gegessen, Güter konsumiert, über deren Herkunft und Produktion sie nichts wissen wollte. Sie war wie so viele einfach zu bequem, zu faul gewesen, den unzähligen Berichten der Wissenschaftler zuzuhören, sie als etwas anderes als ein leidig-dröhnendes Hintergrundgeräusch wahrzunehmen. Sicher, sie hatte gediegene Anlässe besucht, ihren Müll getrennt, gerade genug getan, um behaupten zu können, umweltbewusst zu sein, solange ihre Lebensweise dadurch nicht eingeschränkt wurde.
„Wir haben nicht mehr lange Zeit“, erklärte sie der anderen ungeduldig mit dem Fuß auf die Dielen klopfend. „Wenn die Flut kommt, ehe wir hier raus sind …“
„Ich werde nicht weggehen“, stellte Nadine ruhig aber ohne einen Zweifel an ihrer Überzeugung fest. „Ich werde nie weggehen.“
„Du wirst sterben“, protestierte sie empört.
„Ich weiß.“
„Wie kannst du das so gleichgültig sagen?“ Aufgebracht stopfte sie einen weiteren Müsliriegel in die Außentasche ihres Rucksacks, dort wo sie normalerweise die Leckerlies für Karl aufbewahrte.
„Du wirst meine Meinung nicht ändern, also verschwende nicht deine kostbare Zeit.“ Damit war für Nadine das Gespräch beendet.
„Ich wünsche dir, dass du Karl findest.“ Der Abschied sollte wohl aufmunternd sein, machte sie allerdings bloß noch trauriger. Angefangen hatte es wie so vieles schleichend, zu Beginn hatte man es kaum registriert und sich danach schrittweise daran gewöhnt. Während der Meeresspiegel stetig anstieg, die Stürme heftiger, die Winter kälter und Sommer dürrer wurden, hatte man sich schulterzuckend angepasst. Durchschnittwerte änderten sich, neue Informationen wanderten auf die Lernkarten der Kinder. Normalität, überlegte sie, ist wandelbar, wie der Mensch. Rasch waren die verschwundenen Inseln vergessen, die Niederlande zu einer vagen Erinnerung geworden und die tornadozerstörten Siedlungen im mittleren Westen der USA, wurden genauso wenig erwähnt, wie die Küstenregionen Welt. Erst als das Festland Zentraleuropas in Gefahr war, begann auch hier der Aufruhr – viel zu spät.
„Ich hoffe es“, gab sie leise zurück und drückte die alte Dame fest. Der Mensch gewöhnt sich eben an alles, sogar ans Abschiednehmen.