„Himmel, ich brauche einen Zehenwärmer“, beschwerte sich Mira und sah auf ihre Füße herunter, die in vom Regenguss durchweichen Chucks steckten und auf den Boden des Musikgeschäfts tropften. Meine alte Schulfreundin war keineswegs dafür bekannt, wetterfest zu sein und hasste Herbst sowieso. Ich verkniff mir ein Grinsen und liste zu ihrem Mann Enzo hinüber, der (wie fast immer) ihr pures Gegenteil war – ein Vorteil für mich, denn so kam ich mir kaum je wie ein drittes Rad am Wagen vor, wenn ich mit dem Duo etwas unternahm, da sich meine Interessen schön zur Hälfte mit jenen von Mira und denen von Enzo überschnitten. Derzeit war der junge Mann, oder wie meine Freundin zu sagen pflegte, der Schönling, bei den Schallplatten im Musikladen angelangt und sah sie begeistert durch, während Mira und ich uns unterhielten. „Echt, bei dem Scheißwetter brauche ich fast schon eine Taucherausrüstung“, grummelte sie weiter und ich unterdrückte ein Kichern.
„Komm schon, Miri, sieh’s positiv“, versuchte ich sie aufzuheitern und deutete auf die durchnässte Tüte des Baumarkts, aus der eine blühende Akelei ragte. „Immerhin hast du schon die Pflanze gegossen, bevor du zuhause ankommst. Ich muss Maxis Katzengras heute noch wässern, sonst hat der dann einen getrockneten Knabber-Snack. Ob er den auch auskotzen würde?“
Sie gab ein halb-amüsiertes, halb-indigniertes Geräusch von sich, das ich am ehesten als ein Grunzen beschreiben könnte. „Cass, du bist unmöglich“, kicherte sie schließlich, sah zu mir hoch und schüttelte ein paar Wassertropfen aus der gekrausten Mähne. „Ich kenne dich seit fünfzehn Jahren und habe immer noch keinen Plan, wann du ernst bist und wann du einen grauenhaften Witz machen willst. Irgendwann dreht dir noch jemand den Hals um oder beleidigt dich im Internet, weil er dich falsch versteht.“
„Ich werde doch nicht gecancelled“, gab ich trocken zurück und deutete auf mich. „Du weißt schon, ich bin viel zu nett.“
„Das funktioniert nicht so – nur weil du glaubst, nett zu sein, heißt das noch nicht …“ Sie unterbrach sich, kniff die Augen zusammen und begriff plötzlich. „Okay, das hätte ein Witz sein sollen?“
„Hätte. Nun ja, es ist für mich sowieso viel witziger, wenn du meine Witze nicht verstehst.“ Ich linste zur Tür, da mich das Verlangen nach einer Zigarette überkam. Zu beschämt, meine Sucht einzugestehen, fragte ich stattdessen: „Sag mal – wolltet ihr nicht noch rüber zum Kleiderladen, bevor die Mall schließt?“
„Also ich wollte, ja. Aber Enzo hat die Schallplatten entdeckt, jetzt sind wir da, das könnte also dauern.“
Er sah auf und feixte: „Schatz, im Kleiderladen bist du auch nicht schneller als eine Schildkröte, das ist ein offenes Geheimnis.“
„Noch ein Wort und ich nehme einen meiner neuen Heels aus der Tasche und haue ihn dir auf die Birne“, konterte sie in gespielter Empörung. „Außerdem haben wir ja darum Cassandra dabei, sie kann mit dir über Videogames diskutieren, wenn du dich langweilst und mit mir über Mode, wenn ich mich langweile.“ Damit wandte sie sich an mich. „Du bist halt die perfekte Begleitung für unsere Shopping-Ausflüge.“
Ich verkniff mir das Lachen, da ihr vermeintlicher Scherz die Realität perfekt beschrieb. Jedes Mal, wenn sie ohne mich in die Mall gingen, zankten sie sich. „Leute, ihr wisst schon, dass ihr euch einfach aufteilen und in verschiedene Läden gehen könnt, oder?“
„Nein, sicher nicht“, gab Mira ohne nachzudenken zurück. Ich will ja einer, die es zu schätzen weiß, zeigen, was ich gefunden habe und Enzo auch. Ich bleibe dabei, du bist die perfekte Begleitung, ohne dich wären wir längst geschieden.“
Ich schluckte, da ich für einen kurzen Moment geglaubt hatte, dieser lapidare Satz sei ernster gewesen, als er wohl gemeint war. Noch hatte ich es niemandem erzählt, aber ich würde in weniger Monaten auswandern – erst heute Morgen hatte ich erfahren, dass ich den Job in Australien tatsächlich bekommen hatte.
„Oh, cool, Stones“, murmelte Enzo, wieder ganz in die Schallplatten absorbiert, während ich dazu ansetzte, meinen Freunden endlich die mit gleichzeitig tollen und wehmütigen Gefühlen gepaarten Neuigkeiten zu erzählen. „Ich habe mich ja vor zwei Wochen bei dieser Softwarefirma in Melbourne beworben, und … naja …“, ich geriet ins Stocken, „… wäre Mira eben ernst gewesen, müsstet ihr euch in der Tat bald scheiden lassen müssen.“
Enzo sah auf, musterte mich überrascht und rief dann aus: „Oh cool, Cass, das freut mich – darauf müssen wir anstoßen.“ Normalerweise war ich nicht besonders gut darin, die Emotionen anderer Leute zu lesen, doch diesmal war ich mir sehr sicher, Mira war enttäuscht. Sie sah aus, als hätte sie gerade in etwas sehr Bitteres gebissen und müsste es hinunterschlucken, ehe sie etwas zu leise sagte: „Oh, Cass, das freut mich für dich!“
Als ich mich bedankte, machten sich plötzlich Zweifel in mir breit. Ich hatte erwartet, an meiner Entscheidung zu zweifeln, für meinen Traumjob um die halbe Welt zu ziehen, alles außer Maxi zurückzulassen und neu anzufangen, meine Freundschaften neu via Discord zu pflegen … Stattdessen begann ich an meiner Freundschaft mit Mira zu zweifeln. Selbstverständlich nahm ich ihr nicht die Enttäuschung übel, die sie scheinbar schlecht verbarg, nur fiel mir in diesem Moment zum ersten Mal bewusst auf, wie oft ich in den letzten Jahren, seit sie von meinen Überlegungen, auszuwandern, gewusst hatte von ihr solche Sprüche wie vorher jenen, dass sie mich als Begleiterin bräuchten, zu hören bekam. Machte sie das unbewusst oder versuchte sie, mich zu manipulieren, zu tun, was sie wollte? War sie vielleicht gar keine so gute Freundin, wie ich immer geglaubt hatte? Nein, Cass, jetzt übertreibst du, redete ich mir stumm zu, nur blieb der Gedanke in meinen Hirnwindungen hängen und begann, an meinem Bewusstsein zu nagen. Gleichzeitig beantwortete ich die unzähligen Fragen, mit denen mich die beiden nun löcherten, überlegte mir, ob ich nicht trotzdem recht hatte und fühlte mich schlecht, so etwas über eine Freundin zu denken. Oder war einfach ich egoistisch, meine Bedürfnisse über die der anderen zu stellen?
„ … und was sind deine Pläne längerfristig?“ Neugierig musterte mich Mira. „Kommt die Weltenbummlerin Cassandra irgendwann wieder zurück auf unseren Kontinent?“
„Keine Ahnung, wir werden ja sehen“, log ich, nahezu automatisch. Die Wahrheit war viel simpler: Cassandra käme nicht mehr zurück – oder plante es zumindest nicht. Und vermutlich würde Cassandra in den nächsten Monaten lernen, wie viele ihrer Freunde überhaupt willens waren, ihre Gewohnheiten für sie anzupassen. „Hey, cool, Iron Maiden“, frohlockte ich, um mich von dem Thema abzulenken und deutete auf eine Schallplatte im Secondhand-Regal.