Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Exakt um null vier neunundzwanzig Uhr setzt sich Kristof auf und verweilt eine Minute am Bettrand, bis der Wecker den Startschuss zum neuen Tag gibt. Zackig steht er auf, schüttelt Kissen und Decken aus und richtet sein Nachtlager proper her. Dann zieht er sich bis auf die Unterhose aus, legt den perfekt gefalteten Pyjama auf seinen Platz und geht auf die Veranda, wo er mit seiner allmorgendlichen Trainingsroutine beginnt. Mit jeder Woche knarren seine Knochen lauter, seine Muskeln lassen stetig weiter nach. Doch obschon von seiner einstigen Form nur noch wenig übrig ist, schafft er gut vierzig Liegestützen, über zwanzig Kniebeugen und sieben Klimmzüge, schließlich ist ihm seine körperliche Fitness wichtig. Die gesättigt warme Luft hilft seinen Gelenken, hält sie zumindest einigermaßen geschmeidig, aber das ist nicht der Grund, weshalb er tief im Sumpf seine Zelte aufgeschlagen hat. Nein, er ist hier, weil er seinen Brüdern nirgends sonst so nahe ist. Jahrzehnte zuvor hatten sie auf diesem Flecken Erde gemeinsam gedient, gekämpft. Überlebt. Nun ist bloß er übrig. Als er die letzte Übung für den Morgen beendet hat, kehrt Kristof in seine Hütte zurück, um sich zu waschen und für die kommenden Aufgaben bereitzumachen. Zu tun gibt es immer etwas; das Dach ist an einer Stelle undicht, die Büsche wuchern unkontrolliert über die Zufahrt und ab und an kommen verirrte Wanderer vorbei, die er jeweils verpflegt und auf den richtigen Weg führt. Er lässt sich am Esstisch nieder, der vis-à-vis der Schlafecke steht und stellt die Stiefel vor sich auf den Boden. Es wäre an der Zeit für den Schuhkauf, denn die Nähte der alten Treter gingen an den Seiten auf. Ächzend schlüpft er hinein, alles ist mühseliger geworden und seine Finger wollen die Schnürsenkel nicht so recht greifen. Die Küchenuhr zeigt null fünf fünfundvierzig Uhr, es bleiben ihm also fünfzehn Minuten zum Frühstücken.
Nachdem er seine Schale sorgfältig ausgewaschen hat, holt er den Werkzeugkoffer und brummt: „Die falschen Dübel.“ Eigentlich wollte er heute noch den Trägerbalken am Dach reparieren, das Wetter sollte schon morgen unfreundlich werden und er hatte keine Lust, in einem nassen Bett zu schlafen. Früher war das anders gewesen, Regen hatte ihm nichts ausgemacht, ebenso wenig Schlamm, Kälte oder Kugelfeuer. Er hatte die Legion mit Ende Dreißig verlassen und seither ist sein Dasein langweilig, weich geworden. Und einsam, ja, schrecklich einsam. Nie wieder hatte er sich anderen Menschen so nahe gefühlt wie damals, selbst Betty, seine verstorbene Frau war bei aller Liebe, die er für sie empfand, kaum zu ihm durchgedrungen; vielmehr hatten sie neben- statt miteinander gelebt. Verärgert räumt er den Werkzeugkasten weg und schreitet einmal durch sein winziges Domizil in die Kochnische. Kristof nimmt das Funkgerät aus dem Schrank neben der Spüle, kontrolliert, ob die Batterien im feuchten Klima trocken geblieben sind und schaltet es ein.
„Caleb 2558 von Kristof 09. Kommen.“ Wie meldet sich die Gegenstelle nicht sofort und das obwohl der Forstwärter um null sieben zwölf bestimmt im Revier ist. „Ich wiederhole: Caleb 2558 von Kristof 09. Kommen“, blaffte er und vernimmt keine zwei Sekunden später Calebs heisere Stimme.
„Kristof, du alter Haudegen, wie geht’s?“ Zerknirscht übergeht er die informelle und daher inkorrekte Facon des jungen Försters, dem Burschen ordentliche Manieren beibringen zu können ist reines Wunschdenken. „Hier Kristof 09. Frage: Besorgst du mir einen Packen Sechzehnerdübel? Kommen.“
„Scheiße Kristof“, plapperte Caleb fröhlich drauflos. „Wir sind nicht in der Legion.“ Er könnte gut und vor allem gerne auf diese ständigen Erinnerungen verzichten, braucht sie nicht. Das Alter nahm ihm vieles, Kraft, Ausdauer und Appetit, allerdings ist sein Geist bislang unverändert scharf; ein gnädiger Gott, vielleicht das Karma hätten es andersrum gemacht. „Hier Kristof 09. Wiederhole Frage: Besorgst du mir ein…“
„Oh mein Gott, Kristof“, unterbricht ihn Caleb hörbar amüsiert. „Hier Caleb 2558. Verstanden. Ich bringe dir deine Scheißdübel auf der Runde um zirka dreizehnhundert Uhr. Kommen.“
„Hier Kristof 09. Verstanden. Ende.“ Damit beendet er die Funkübertragung, verstaut das Gerät und überlegt, welchen Erledigungen er den freigewordenen Morgen widmen soll.
Der Dachträger war soweit vorbereitet, der Boden seiner Hütte geschrubbt und zwei Drittel der Büsche getrimmt. Kristof nimmt einen großen Schluck aus seiner Flasche und beschließt, sich direkt nach der Reparatur des Dachbalkens ein wenig hinzulegen; irgendwie fühlt er sich seltsam, trotz der Hitze klamm. Gerade als Kristof seinen Schemel vor der siebten Hecke platziert, taucht eine Gestalt zwischen den Bäumen auf. Gelassen geht er auf den Neuankömmling zu und meint: „Sie befinden sich abseits des ausgeschilderten Trails.“ Seine Heckenschere in den Gürtel steckend, bemerkt er, wie ein weiterer Mann, hochgewachsen und außerordentlich breitschultrig, durchs Unterholz bricht. Er schnauft, kämpft gegen den Schwindel und überlegt, was er den Wanderern anbieten könnte, bevor er sie mit einigen seiner Ratschläge im Gepäck zurück auf den Pfad schickt. „Kommen Sie mit zur Hütte, ich erkläre Ihnen, wie Sie …“ Das Sprechen fällt ihm schwer, als hätte er Sirup im Mund und seine Sicht ist getrübt, außer vagen Umrissen erkennt er nichts. „… wie Sie zur nächsten Rangerstation gelangen.“ Ein dritter Mann erscheint auf der Zufahrt, nach ihm ein vierter, ein fünfter, ein sechster …
„Kristof.“ Der Angesprochene hält abrupt inne, sein Herz rast, die Schemen kommen näher und näher, bis er inmitten seiner Kameraden zusammenbricht. Endlich, endlich bröckelt sein Verstand, denkt Kristof, erleichtert und glücklich, sich dieser absurden Parallelwelt hingeben zu dürfen, in der seine Brüder auf ihn warten. Die Immersion gelingt, Jaques reicht ihm die Hand und verspricht: „Nous n’abandonnons jamais ni notre morts.“*