„… nein, alles in Ordnung. Wir sehen uns dann später?“ Ein leises Knacken war in der Leitung zu hören, bevor ihre beste Freundin kichernd antwortete und sie damit auch zum Lächeln brachte. Wann immer sie mit Sarah sprach, fühlte sie sich gleich besser, sogar wenn diese sie dreckig auslachte, weil sie sich erneut den kleinen Zeh an der Schranktür gestoßen hatte.
„Bis um vier dann“, konnte sie gerade noch sagen, bevor das Rauschen in der Leitung unerträglich wurde und sie auflegte um ihren Mantel von der Stuhllehne zu zerren. Der Wecker hatte heute bestimmt achtmal geklingelt, bis der schrille Ton sie endlich aus dem Schlaf gerissen hatte, weswegen sie jetzt schon wieder in arge Zeitnot geraten war, so dass sie das Frühstück ausfallen lassen musste. Nun, eigentlich lief das jeden Morgen so, vermutlich hatte sie seit Wochen nicht mehr gefrühstückt, obwohl sie es sich fest vorgenommen hatte, dieses Ritual in ihren Alltag einzubauen, so wie Erwachsene das nun mal tun. Naja, dachte sie sich, wenigstens reicht es beinahe immer für einen kurzen Zwischenstopp im Gasthof um die Ecke, so dass sie zumindest etwas Koffein in ihr System bekam.
Ein letzter Blick in den aufwendig verschnörkelten Spiegel des kleinen Foyers verriet ihr, dass es wohl bald an der Zeit wäre, sich um eine Antifaltencreme zu kümmern, doch sie wusste ganz genau, dass egal wie viele Runzeln sich um ihre Augen ansammeln würden, sie würde sich dennoch immer wie das sechzehnjährige Mädchen fühlen, das irgendwie fehl am Platz ist. Der Hausschlüssel verkratzte den Bildschirm ihres Handys, als sie ihn zackig über aus der Manteltasche zog und hinausrauschte, um die U-Bahn nicht zu verpassen.
„… haben Sie noch Fragen zum Vorgehen?“ Sie wusste, dass weder ihr Patient noch dessen übereifrige Frau ein Wort verstanden hatten, doch die beiden winkten ihr Angebot ab und ließen sie bloß wissen, dass sie vollstes Vertrauen in sie und ihre Fachkenntnis hätten. Jenna arbeitete seit nun vier Jahren in der Klinik, sie hatte all ihre Ausbildungsschulden beglichen und war zu einer respektierten Ärztin geworden, genauso wie sie es sich immer gewünscht hatte. Trotzdem kam sie sich an den meisten Tagen wie eine Betrügerin vor, wenn sie ihren Kittel anzog und auf weichen Sohlen durch die Irrgänge des Krankenhauses marschierte. Als Studentin hatte sie dieses Gefühl als Teil ihrer Ausbildung angesehen und als Assistenzärztin hatte sie es sogar schätzen gelernt, weil es sie davor bewahrte, übermütige Fehler zu begehen. Doch insgeheim hatte sie immer gehofft, dass es irgendwann verschwinden würde, dieser nagende Verdacht, hier nicht hinzugehören.
„Gut, dann fahren wir so fort“, sagte sie schließlich und bemühte sich darum, möglichst souverän zu wirken, was ihr angesichts der Tatsache, dass sie private Details im Krankenhausrestaurant besprach, etwas schwer fiel. „Die Schwester kommt dann gleich und bringt sie in ihr neues Zimmer.“ Ihre orthopädischen Schuhe quietschten kaum merkbar, als sie sich zum Gehen wandte und ihre Rückenmuskulatur verkrampfte sich sofort, als sie das unangenehme Geräusch hörte. „Laufe aufrecht und selbstbewusst“, hörte sie eine nagende Stimme in ihrem Kopf sagen, bevor sie die Türklinke des gläsernen Eingangs herunterdrückte und in den Flur verschwand.
„… und einmal die Tortellini an Gorgonzolasauce“, antwortete sie auf die Frage des etwas zu höflichen Kellners, ohne vom verschmierten Bildschirm ihres Smartphones aufzublicken. Der Tag war nur schleppend vorangegangen und hatte damit begonnen, dass sie den neuen Pfleger tadeln musste, weil er die Berichte aus der Nephrologie verschlammt und nicht einmal den Anstand besessen hatte, ihr das rechtzeitig mitzuteilen. Leise seufzend ließ sie ihre Finger durch den neu geschnittenen Pony fahren und fragte sich, welcher Teufel sie geritten hatte, als sie dem äußerst fragwürdigen Haarschnitt zugestimmt hatte, als hölzern klingende Schritte sie daran erinnerten, dass sie Gesellschaft hatte.
„Konntest du schon bestellen?“, wollte er wissen und sie zwang sich dazu, ein Lächeln aufzusetzen, als er sich auf dem ihr gegenüberliegenden Stuhl niederließ. Ihre Antwort war ein simples Nicken, nach dem die Konversation, die ohnehin nie richtig begonnen hatte, sofort wieder abebbte.
Sie war sich nicht sicher, weshalb sie sich immer wieder dazu überreden ließ, aber hier saß sie nun, inmitten eines teuren Restaurants und spielte peinlich berührt mit ihrer Serviette. Brad war wirklich ein netter Kerl, daran hatte sie keinen Zweifel, und sicherlich hätte sie sich in seinen dunkelblauen Augen verlieren können, währendem er über die Vor- und Nachteile diverser Kampfjets sprach, doch es wollte ihr einfach nicht gelingen loszulassen. Also verweilte sie mehr oder minder stumm auf ihrem Platz und konnte regelrecht dabei zusehen, wie Brad die Situation von Minute zu Minute unangenehmer wurde. Vielleicht hätte er ein Buch mitnehmen sollen, überlegte sie sich und musste bei dem Gedanken kichern.
„Was ist so lustig?“, fragte Brad mit einem schiefen Grinsen, das seine Verwirrung deutlich zeigte. „Ich …“, begann sie nervös und schüttelte dann ihren Kopf, so dass der Pony hin und her flog, bevor sie fortfuhr: „Ach, nichts.“
„… und zwei Erdnussbutterkekse.“ Sie war froh, dass Brad am anderen Ende der Stadt wohnte und ihr so die Peinlichkeit des Verabschiedungstanzes nach einem missglückten Date erspart wurde. Zudem konnte sie so noch einen kleinen Abstecher in die Patisserie am Quartiersrand machen, die nachts geöffnet war und damit wohl eine sehr lukrative Marktlücke gefunden hatte.
„Zum Mitnehmen oder hier Essen?“, wollte die liebenswürdig lächelnde Dame hinter dem Tresen wissen, währendem sie mit einer einladenden Geste in den hinteren Teil des Raums zeigte, wo der schmale Durchgang zum Gasthof lag.
Ihr mitternächtlicher Kaffee wurde langsam kalt, doch sie bemerkte es nicht und spielte weiter gedankenverloren mit dem runden Henkel der Tasse. Ihr Leben war genau nach Plan verlaufen, sie hätte sich niemals etwas anderes gewünscht und doch kam sie nicht umhin, sich jeden Tag zu fragen, was sie hier überhaupt machte. Egal ob sie mit Freunden, Kollegen oder Patienten sprach, immer hatte sie den nagenden Zweifel im Kopf, dass sie hier nicht hingehörte, dass sie in Wirklichkeit nichts weiter war als das sechzehnjährige Mädchen, das keine Ahnung hatte von dem, was es da tat. Und das alles obwohl sie wusste, dass sie hart für ihre Ziele gekämpft und sie sich verdient hatte. Manchmal wunderte sie sich, ob es wohl allen Menschen so ging, ob es überhaupt möglich sei, sich nicht mehr wie ein verlorenes Kind zu fühlen und so kramte sie ein zerknittertes Stück Papier hervor und notierte den einen Satz, der sie zugleich erleichterte und zutiefst verängstigte: „Peter Pan lebt in unseren Gedanken.“