Hannahs Tag hatte um halb fünf begonnen und sollte noch lange nicht enden. Den kurzen Weg vom Büro zum weitläufigen Bahnhofgebäude überwand sie trotz ihren hohen Absätzen in nur wenigen Minuten und kaum trat sie in die Halle, sah sie schon die rote Anzeige, die auf der Abfahrtstafel hinter ihrer Verbindung prangte.
„Mist, schon wieder!“, murmelte Hanna, frustriert über die neuerliche Verspätung und grub ihr Kinn tief in ihren Übergangsschal. Unschlüssig blieb sie nahe dem Eingang stehen und überschlug gedanklich, ob die verzögerte Abfahrt ihr vielleicht eine Süßigkeit bescheren könnte, doch das Brennen in ihren Fußballen hielt sie davon ab, freudig zum Bäcker zu rennen. Stattdessen ging sie nun gemütlich in Richtung des Bahnsteigs Nummer Acht.
„Vielen Dank“, meinte Ben schief grinsend, als er die Fahrkarte entgegennahm. Etwas peinlich war es ihm schon dass er den Automaten nicht hatte bedienen können, immerhin war er Ingenieur und sollte eigentlich wissen, wie man die richtigen Knöpfe findet. Aber er war einfach schon zu lange wach, um sich mit störrischen Geräten herumzuschlagen, viel lieber nippte er gedankenverloren an seinem Kaffee, den er seit beinahe dreißig Minuten mit sich herumtrug. Es war eine Weile her, seit er zum letzten Mal am Bahnhof gewesen war und eine Menge hatte sich verändert. „Entschuldigen Sie“, wandte er sich an die Dame am Schalter, „können Sie mir bitte sagen, wo der Zug nach …“ Eine Durchsage unterbrach ihn. Er winkte sogleich ab, schmunzelte die Bahnangestellte an und deutete auf die Lautsprechanlage. „Hat sich erledigt. Einen schönen Tag noch.“
Hannah mochte den Herbst, genauso wie den Sommer, nur diese ekelhafte Zeit dazwischen ging ihr auf die Nerven. Egal was man anzog, man hatte entweder zu kalt oder zu warm. Mit einer nicht brennenden Zigarette zwischen den Fingern saß sie auf einem der Bänke am menschenleeren Ende des Bahnsteigs und wartete mit schmerzenden Füßen darauf, dass der Zug endlich einfahren und sie nach Hause bringen würde. Sie hatte noch einiges zu tun, freute sich allerdings jetzt schon darauf, irgendwann, nach Hausarbeit und Papierkram, mit einem schnulzigen Buch, einer Tasse Tee und Wollsocken ins Bett zu kriechen. Hoffnungsvoll blickte Hannah auf, als sie Schritte hörte, hatte sie doch ihr Feuerzeug im Büro vergessen. Aber anstelle davon, den herannahenden Mann um Feuer zu bitten, steckte sie ihre Zigarette sofort in die Manteltasche. Auf keinen Fall würde sie dieses eklige Laster einem solchen Prachtkerl gegenüber zugeben.
Er warf den Kaffeebecher in die große Tonne am Anfang des Bahnsteigs, dann rückte Ben fahrig seinen Anzug zurecht. Sein Sakko hatte erstaunlich wenig Sitzfalten, überlegte er, als er in der Nähe eine Bank mit Aschenbecher erspähte und sich darauf fallen ließ. Wahrscheinlich hätte er heute früh seinen Mantel aus dem Schrank wühlen sollen, es wurde nämlich langsam unangenehm kühl. Sein Zug hatte Verspätung, trotzdem sah Ben nicht ganz ein, weshalb sich seine bahnfahrenden Kollegen stets darüber beschwerten. Was sind schon ein paar Minuten, die konnte man schließlich wunderbar mit einer Zigarette überbrücken. Wenn man den welche hätte, sinnierte Ben verärgert, er hatte seine letzte nämlich noch bei der Tramhaltestelle aufgeraucht. Eigentlich wollte er sich von der nächstbesten Person eine schnorren, doch als er die hübsche Frau sah, die sich neben ihn setzte, änderte er seinen Plan sofort.
„Hallo“, begann Hannah vorsichtig und war erleichtert, denn ihre Begrüßung wurde mit einem Lächeln erwidert.
„Hey“, erwiderte der hochgewachsene Mann, dessen Wangenknochen man als Papierschneider benutzen könnte, und setzte sich neben sie. „Schon wieder Verspätung, was? Ich bin übrigens Tom.“
„Hannah, freut mich“, sie nickte eifrig, stopfte die Zigarette tiefer in die Manteltasche und versuchte möglichst unauffällig ein Hustenbonbon aus ihrer Louis Vuitton zu kramen. Dann meinte sie beiläufig: „Ja, ich weiß nicht einmal mehr, wann ich das letzte Mal pünktlich nach Hause gekommen bin.“
„Ach ja … Es hat auch einen Vorteil, weißt du“, begann der schöne Fremde mit einem Unterton, den Hannah etwas skeptisch werden ließ.
„Wie meinst du das?“, erkundigte sie sich, da er seine rätselhafte Aussage nicht freiwillig erläuterte.
„Na, wenn ich nicht hier warten müsste, bis der Zug einfährt, hätte ich dich nicht getroffen.“ Konnte es sein, fragte sich Hannah teils geschmeichelt, sowie ein wenig verärgert, dass der Typ mit ihr flirten wollte?
„Schon wieder zu spät, was?“ Ihre Stimme klang hell, dabei irgendwie auch rauchig, eine Mischung, die Ben sofort auf ihre Lippen schielen ließ.
„Ja, nicht zum aushalten“, gab er kleinlaut zurück, wägte gedanklich ab, ob er sie nichtsdestotrotz um eine Zigarette bitten sollte. Ein rascher Blick auf ihre zarten, nicht vom Nikotin verfärbten Finger brachte ihn davon ab.
„Tja, dann müssen wir wohl hier warten“, stellte sie schulterzuckend fest, warf ihr langes Haar zurück, ehe sie ihren Ellenbogen auf der Rückenlehne abstützte und sich etwas zu Ben beugte. „Ich kann mir Schlimmeres vorstellen. Ich bin übrigens Zoe.“
„Ben, freut mich. Ja, das habe ich vorhin ebenfalls gedacht. Mir ist nicht klar, weshalb sich immer alle beschweren.“ Bens Antwort war ehrlich gemeint, schien sein Gegenüber allerdings nicht sonderlich zu interessieren. Sie winkte bloß ab und fuhr fort: „Immerhin kann ich hier mit dir warten.“
„Wie meinst du das?“, hakte Ben perplex nach, da er ihre Aussage nicht ganz einordnen konnte. Wahrscheinlich war sie bloß froh, etwas Unterhaltung zu haben, aber weshalb grinste sie ihn dann so lasziv an?
„Wir könnten uns die Wartezeit mit einem Kaffee verschönern, wie wär’s?“, schlug der Tom vor. Sein Lächeln sollte bestimmt entwaffnend wirken, dessen ungeachtet fühlte sich Hannah langsam aber sicher unwohl.
„Lieber nicht, ich will den Anschluss nicht verpassen, mein Freund fragt sich sonst, wo ich bleibe“, log sie. Sie hatte zwar einen Freund, der hatte jedoch Nachtschicht und würde ihre Verspätung nicht mitbekommen.
„Ach kommt schon, ich will ja nur einen Kaffee mit dir trinken“, drängelte der Hochgewachsene weiter, rückte ein wenig näher an Hannah, ohne sie zu berühren.
„Ich habe nein gesagt“, gab sie so forsch es ihr möglich war zurück. Sie würde sich so etwas nicht gefallen lassen, befahl sie sich selbst. „Und jetzt entschuldige mich bitte.“ Mit den Worten sammelte sie ihre Handtasche von der Bank auf, erhob sich und wollte woanders hingehen. Tom packte sie am Handgelenk, nicht hart, aber so, dass sie vor Schreck abrupt stehenblieb.
„Sag mal, Ben, wie wär’s mit einem Kaffee?“, flötete Zoe lieblich und rutschte noch etwas näher an ihn heran.
„Lieber nicht, wenn ich den Anschluss verpasse, sorgt sich meine Freundin, du verstehst“, gab er unehrlich zurück. Seine Freundin kümmerte sich derzeit um ihre kranke Mutter, würde es also nicht merken, wenn er zu spät zu Hause war.
„Na komm schon, Ben, ein kleiner Kaffee unter neuen Freunden kann nicht schaden“, beschwor die zierliche Frau ihn weiter und präsentierte ein aufreizendes Lächeln, das Ben eher unheimlich anmutete.
„Tut mir leid, aber ich möchte wirklich nicht“, erwiderte er betreten, beinahe beschämt ihre Avancen abblitzen zu lassen. Ben wollte wirklich nicht unhöflich sein, weswegen er nicht einfach aufstand und wegging, doch er fühlte sich zusehends unwohler. „Der Zug kommt bestimmt gleich“, hüstelte er schließlich. Nicht wissend, was er sonst tun sollte, starrte er auf den mit zertretenen Kaugummis übersäten Boden und zuckte kaum merklich zusammen, als er ihre Hand auf seinem Knie spürte.
„Lass mich los!“, kreischte Hannah sofort, fast instinktiv und entriss Tom ihren Arm. Dieser stand auf, hob die Hände in die Luft, ehe er zwei Schritte auf sie zumachte. Das war eindeutig zu viel für Hannah.
„Sorry“, murmelte Tom viel zu leise und machte einen dritten Schritt. Erst erstarrte sie auf der Stelle, erst als Tom den vierten Schritt wagte, holte sie aus und scheuerte ihm eine. Er hatte Glück gehabt, dass Hannah Rechtshänderin war, ihre Tasche hingegen in der Linken trug, ansonsten wäre die Louis Vuitton mitsamt Schlüsselbund, Make-Up-Täschchen und der Hardcover-Ausgabe von Stephen Kings „Puls“ auf seine Schläfe gekracht. Deswegen, schoss es Hannah durch den Kopf, lesen Menschen Bücher über Zombies, um die Wälzer als Waffe gegen Perverse zu benutzen.
Hannah schaute sich verängstigt um, während Tom sich mit beiden Händen ins Gesicht fasste. Obwohl sie am Ende des Bahnsteigs waren, konnte sie sehen, wie einige Leute zu ihr rannten, einige von ihnen brüllten.
„Lassen Sie die Frau in Ruhe!“, donnerte ein Herr mittleren Alters, der in seinen Anzugsschuhen ein beachtliches Tempo vorgab und einen Teenager sowie einen Bahnarbeiter beim Rennen zu ihrer Rettung abhängte.
„Könntest du …“, begann Ben stammelnd, „könntest du bitte die Hand wegnehmen?“ Das Ganze war ihm nicht geheuer, dennoch wollte er nicht etwa ausfallend werden, immerhin meinte Zoe es bestimmt gut.
„Ach, wieso denn? Gefällt dir das nicht?“ Sie kniff ihn in die Innenseite seines Oberschenkels, auf eine Weise, die keinen Zweifel daran ließ, wo sie ihn beim nächsten Mal anfassen würde. Das war eindeutig zu viel für Ben. Erst versuchte auf der Bank wegzurutschen, dann stand er auf, doch egal was er tat, er konnte sich nicht Luft verschaffen. Zoe folgte ihm auf Schritt und Tritt.
„Wenn du nicht aufpasst, landest du mit deinem süßen Hintern an der frisch gestrichenen Rehgipswand“, kicherte Zoe auf die Rigipswand hinter ihm deutend.
„Bitte, lass mich!“ Ben wurde laut, wusste sich nicht zu helfen, warf flehende Blicke in die Menschenmenge. Niemand reagierte, obschon ihn bestimmt einige gehört hatten. Er wollte ihr wirklich nicht wehtun, also schubste er sie so sanft er konnte an den Schultern weg, in der Hoffnung, so rasch weglaufen zu können. Kaum war sie einen halben Meter rückwärts getorkelt, gab sie ein Quieken von sich und ein stämmiger Mann packte Ben von hinten.
„Hat er dir was getan?“, fragte der Fremde an Zoe gerichtet. Diese blinzelte verwirrt, schnaubte dann und sagte: „Ja, er hat mich gestoßen!“