Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Lieber Freund
Ich bin heute neben dir aufgewacht als es draußen noch dunkel war, lange bevor du vom lauten Schellen des Weckers aus dem Schlaf gerissen wurdest. Ich habe dem Wind gelauscht und die Reflektion der Straßenlaterne auf der frostweißen Wiese hat mich in Gedanken weggetragen und in dem Moment habe ich realisiert, dass es meine Zeit ist, zu gehen. Doch bevor ich verschwinde, möchte ich dir etwas hinterlassen, etwas, das mir jeden Tag ein Lächeln schenkt.
Die Sonne ist mehr als ungreifbare 147,1 Millionen Kilometer von uns entfernt und doch ist es ihre thermonukleare Strahlung, die unser Leben ermöglicht und die 4.6 Milliarden Jahre alte Geschichte der Erde ist atemberaubender als jede Poesie, die uns jemals bezaubern könnte. Zu wissen, dass wir in einem beinahe endlosen Universum mit einem unerschöpflichen Potential existieren und unsere Leben sich dennoch berührten, erfüllt mich mit tiefgreifender Freude. Wir wurden entgegen jeder statistischen Wahrscheinlichkeit geboren und die flüchtige Zeit, die uns als Menschheit bleibt, wurde durch das Überleben und Sterben unserer Vorfahren geformt, geleitet und bedachte uns mit der unschätzbaren Fähigkeit, unser Sein zu erleben. Es ist derselbe evolutionäre Prozess, der uns in die Instabilität stürzte und uns damit zur zunehmenden Komplexität zwang, der es mir ermöglichte dich als meinen Freund neben mir zu erkennen.
Wir alle haben eine lange Reise hinter uns; ein Abenteuer, das mit Quarks und elementaren Teilchen begann, Atome und Moleküle, später Einzeller, Mehrzeller und irgendwann, als der Zufall uns in unsere menschliche Hand spielte, herrliche Ökosysteme hervorbrachte, die uns eine Heimat gaben. Ein Abenteuer, das sich nun in jedem Ding, jedem Organismus und jedem Gedanken findet.
Als der Homo Sapiens seine ersten Worte sprach, als er sich selbst zum allerersten Mal in Relation zu seiner Umwelt erfassen konnte, als er sich seiner fatalen und endgültigen Vergänglichkeit bewusst wurde, wurde der Grundstein für all unsere unbändige Lebenslust sowie unsere tiefsten Ängste um eine soziale Dimension erweitert und würde ich es nicht in jeder Sekunde meines Daseins erleben, so wäre diese extraordinäre Unwahrscheinlichkeit undenkbar für meinen Verstand.
Wäre ich doch nur in der Lage, mich in deiner, durch die Regeln der Genetik gegebenen und sozio-kulturell erlernten Mimik zu verlieren, dich zu beobachten während du ein Zuckerstück auf der Tischplatte hin und her schiebst, so wie du es immer tust, wenn du in Gedanken verloren deinen Tee vergisst, und verstehst, wie unglaublich leer die Menschheit sein kann. Könnte ich diesen Anblick nur noch ein einziges Mal genießen, so würde ich dir beweisen, wie viel mehr hinter unserer Fassade steckt und wie viel wir auf und in uns tragen; dass wir weit mehr Bakterien in unseren Körpern beherbergen, als wir eigene Zellen besitzen und unser Leben so nie alleine uns gehört. Jede Mikrobe, jedes Spinnentier, das auf deiner linken Augenbraue sitzt, ist genauso unwichtig wie du selbst und dennoch gab es niemanden vor dir, der meine Oxytocin-, Dopamin- und Endorphinwerte so euphorisierend verändern konnte.
Allerdings, trotz all der unermesslichen Großartigkeit der Welt die mich umgibt, bin ich kläglich und unsinnig gescheitert; ich konnte mein eigenes Leben nicht nähren und es fällt mir zunehmend schwer, die Tatsache unserer Bedeutungslosigkeit mit der naiven, aber nicht minder weisen Leichtigkeit unserer Ahnen zu akzeptieren. Schlimmer noch ist, dass nun nicht mehr nur ich es bin, auf der diese nagende Unzufriedenheit schwer lastet. Es liegt mir fern, dich für dieses Misslingen verantwortlich zu machen, dennoch habe ich dir dieses Gefühl gegeben und dafür möchte ich dich, mit all der unwichtigen und doch so bedeutsamen Liebe in mir, um Verzeihung bitten. Irgendwann, ich weiß nicht mehr wann es geschehen ist, habe ich meine Träume, habe ich mich selbst verloren und schlussendlich vergessen, warum ich hier bin. Und jedes Stück von mir, das verschwand, hast du gefunden und sorgsam für mich aufbewahrt, versucht es mir wiederzugeben und dafür, mein Freund, bin ich dir unendlich dankbar. Doch ich kann nicht länger bei dir bleiben und zusehen, wie du für mich an mir festhältst. Ich hatte versucht dir noch mehr von mir zu geben, in der vagen Hoffnung, dir damit etwas zu vermachen, das dir das Glück ermöglicht, das ich mir für dich wünsche. Aber ich lag Nacht für Nacht neben dir, berührte dich wie eine Tangente an einem Punkt; unfähig dich zu umfassen und diese Idee schien mir unerträglich. Und als ich heute in der Dunkelheit erwachte, verstand ich es endlich: Leichtsinnig wie wir sind, glauben die Menschen stets mehr von etwas Wundervollem haben zu müssen, wenn es manchmal die Extraktion von etwas Kaputtem ist, die uns befreit.
Aus diesem Grund kann ich nicht an deiner Seite bleiben, muss meinen eigenen Weg zu dem winzigen Lebensraum finden, der auf diesem Himmelskörper zu mir gehört und muss unsere chemische Reaktion aufbrechen, doch werde ich für den flüchtigen Moment meiner Zeit nie vergessen, dass du es warst, der meiner Neugier ein Zuhause geschenkt hatte und ich hoffe, dass die Erinnerung an mich deine endogenen Opiate zündet. Vergiss nie, woher wir kommen und gewinne Freude und Lust daraus, dass wir nie gänzlich im Stande sein werden, unser Dasein wahrhaftig, mit jedem Molekül unseres Körpers greifen zu können. Es gibt keinen Plan, kein Ziel und keinen Sinn und trotzdem suchen wir danach und wenn wir den Mut, die Hartnäckigkeit des Überlebenden in uns entdecken, finden wir all das in uns selbst.
Ich wünsche dir, meinem Freund, Neugier und Wissensdurst. Ich wünsche dir die Demut, die dich die Schönheit der Existenz mit der Kraft all deiner Synapsen und Neuronen wahrnehmen lässt und die unerhörte Frechheit, dich ihr nicht kampflos zu ergeben, sondern sie jeden Tag aufs Neue herauszufordern, zu hinterfragen und ihr dadurch noch mehr Glanz und Wahrhaftigkeit zu verleihen. Sei sprachlos und wortgewaltig zugleich, wann immer du innehältst und deine Lungen mit Sauerstoff füllst, wann immer du Photonen isst, ohne die der leere Raum leer geblieben wäre und wann immer Strom durch dein wunderbares Gehirn fließt, das dich zu dem einen Menschen macht, der, zumindest für dich und für mich, niemals unbedeutend sein wird.
Auf Wiedersehen, mein Freund.“
Das dünne Papier raschelte leise, als er den Brief in seine Sporttasche steckte und just in dem Moment sagte der Busfahrer mit seiner monotonen Stimme die nächste Ortschaft an. Etwas aufgeregt wühlte er durch seine Haare und griff nach seinen Sachen, bevor er durch den schmalen Gang, vorbei an den jungen Mädchen, der alten Nonne mit dem grauenhaften Abszess auf ihrem Handrücken und dem verwahrlost wirkenden Herrn schritt und sich vor die Glastür des in die Jahre gekommenen Reisebusses stellte. Es gab nicht vieles auf diesem Planeten, das er so sehr hasste wie sich stundenlang in einem beengten Bus aufhalten zu müssen; die Gerüche waren abstoßend und die Gesellschaft war meist nicht minder unangenehm. Trotzdem hatte er die letzten drei Tage in diesen Transportmitteln verbracht, auf der Suche nach der eine Person, die Schönheit im fehlenden Sinn und Zweck des Lebens gefunden hatte.
Hallo liebe Rahel
„Sei sprachlos und wortgewaltig zugleich…“
genauso fühlt man sich, wenn man diesen Brief liest. Einfach göttlich (Sarkasmus gewollt :D )
Hallo werter Clue Reader
Es freut mich natürlich sehr, dass dir gerade diese Geschichte gefallen hat, da sie mir besonders am Herzen liegt. Ich glaube, es fällt uns gleichermassen leicht, sprachlos und wortgewaltig zu sein, wenn wir an die Geschichte unseres Universums denken – sprachlos, weil diese unwahrscheinliche Unwahrscheinlichkeit auf so unwahrscheinliche Art und Weise grossartig ist und wortgewaltig, weil es schlichtweg umwerfend phantastisch ist, wie viel wir bis heute darüber erfahren konnten.
Ob die Geschichte nun das Prädikat „göttlich“ verdient weiss ich nicht, aber wie alles göttliche ist sie im menschlichen Geist entstanden ;-)
Rahel