Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Ernest sah sich in dem weiß gestrichenen Raum um, der schon für viele Jahre sein Labor gewesen war. Nun war die Anlage, die tief unter der Erde lag und hermetisch abgedichtet werden konnte, um eine Verfälschung der Resultate anzuschließen, umfunktioniert worden. Die Tische und Geräte waren an die Wände geschoben worden, wo sie am wenigsten im Weg standen und Ernest hätte sowieso nicht mehr forschen können, weil die Stromversorgung zusammengebrochen war und bloß noch das Notstromsystem funktionierte, das von den Solarpanels gespeist wurde. Immerhin reichte das noch für etwas Licht, den Fernseher und die Küche, dachte er leicht indigniert, während er eine Pfanne mit etwas Wasser füllte und auf die kleine Kochplatte stellte, um sich seinen allabendlichen Tee zu brauen. Dieses und andere Rituale waren es, welche die kleine, kaum erkennbare Trennlinie zwischen Ordnung und Chaos, zwischen Struktur und absoluter Anarchie bildete, sinnierte er, während er geistesabwesend in dem Schränkchen nach dem Glas suchte, in dem er seinen Tee aufbewahrte. Wer wollte schon in einem Labor leben und in der Nacht mit Wollhandschuhen schlafen, weil die Heizung nicht mehr funktionierte? Er fischte aus dem großen Glas, das in dem Schränkchen stand einen Teebeutel und murmelte: „Ja, die kleinen Sorgen des Lebens.“
Es war vor etwas mehr als drei Monaten gewesen, als das Unglück seinen Lauf genommen hatte. Ernest war in seinem Wagen gesessen und über die am späten Abend kaum benutzte Autobahn in Richtung der Innenstadt gefahren und hatte im Radio Jazz gehört, bereits in Vorfreude auf eine warmes Bad und ein Abendessen in seiner gemütlich eingerichteten Zweizimmerwohnung. Plötzlich hatte er das rote Glimmen am Horizont vor sich erkennen können und fragte sich, was geschehen sein mochte; es war bereits dunkel und viel zu spät für irgendeine Form von Abendrot. Erst hatte er an einen Großbrand in einem Fabrikgebäude gedacht, doch dafür war das Leuchten, obwohl sehr weit entfernt, viel zu hell gewesen – und es wurde rasch immer heller, bis es schließlich alles in ein schauriges, rötliches Zweilicht getaucht hatte. Er war mit dem Wagen rechts herangefahren, um das verwirrende Schauspiel genau beobachten zu können, als unvermittelt alle Straßenlaternen erloschen. Als er nach einem verwirrten Blick zu den noch leicht nachglimmenden Laternen wieder in die Richtung der Stadt geblickt hatte, war ihm klar geworden, dass überall der Strom ausgefallen sein musste. Sobald erste grelle Blitze durch die rot schimmernden Wolken zuckten, hatte Ernest mit einem Mal begriffen, was geschehen war. Er war sofort in seinen Wagen gestiegen, hatte gewendet und war auf der Autobahn wieder in die Wüste hinausgerast, schneller, als er je in seinem Leben gefahren war, denn er hatte genau gewusst, dass alles vorüber gewesen wäre, wenn ihn die Welle erfasst hätte.
Er war dem Verderben bloß knapp entkommen, war vielleicht eine halbe Minute vor der Welle beim Labor angelangt und hatte noch gerade genug Zeit gehabt, seine Kollegen zu warnen. So tief unter der Erde, wie die elf Überlebenden nun waren, hätte ihnen wohl nicht einmal ein Asteroideneinschlag etwas anhaben können. Er musste bei dem Gedanken schwach lächeln, denn ein Asteroideneinschlag wäre mit großer Wahrscheinlichkeit weniger schlimm gewesen als die Ereignisse, die zu seiner jetzigen Situation geführt hatten. Ernest sah sich in dem Raum um, der ihrer kleinen Enklave als Wohnzimmer diente. Im Fernseher liefen die Nachtrichten, so wie bereits seit Monaten, und sie sind seit jenem verhängnisvollen Tag noch nie besser geworden. Seufzend streckte er sich, ging zu der Pfanne, in welcher das Wasser nur vor sich hin köchelte, schaltete die Kochplatte ab und warf den Teebeutel hinein. Als er gedankenverloren in das Wasser starrte, das sich langsam braun färbte, konnte er hinter sich Schritte hören, also wandte er sich um. Maura trat in den Raum, genau wie er in praktische Kleider gehüllt, nur dass sie einen Labormantel übergezogen hatte; offenbar fror sie genauso wie alle anderen. Wie jeden Tag setzte sich die Biochemikerin zusammen mit ihm hin, um vor dem Zubettgehen eine Tasse Tee zu trinken, der Ablauf war bereits derart zur Routine geworden, dass die beiden zuerst kein Wort austauschten. Ernest goss den Tee ein und reichte seiner Kollegin eine Tasse, während er sich neben ihr auf die am Boden ausgebreiteten Kissen setzte. Schließlich fragte sie in die Stille: „Was macht ein Kernphysiker, um die tödliche Langeweile zu überwinden?“
Er blickte auf und entgegnete schließlich nach einigen tiefen Atemzügen: „Nachdenken. Zuerst habe ich gegrübelt, was wir getan haben. Dann stellte ich mir die Frage, ob es einen Weg gibt, auf dem wir nach Australien gelangen können. Und nun, seit ich begriffen habe, dass wir wohl so rasch nicht von hier wegkommen, überlege ich, was wir gegen die Auswirkungen tun können und wie viele Monate oder Jahre der autonome Bunker noch funktionieren wird.“
Maura schwieg einige Zeit, sie schien darüber nachzudenken, was sie antworten sollte, bevor sie das Schweigen brach. „Getan haben wir es nicht – wir haben es geschaffen. Und auch wenn das fatalistisch klingen mag, ich glaube kaum, dass es daraus einen Ausweg gibt.“
Er nickte langsam. „Wahrscheinlich hast du Recht, doch es ist besser als den ganzen Tag nichts zu tun. Ich habe einen Stift, ein Whiteboard und einen unendlichen Vorrat an Schwarztee.“
„Okay, ich bin dabei“, entgegnete sie ohne groß nachzudenken, trank aus und erhob sich. „Finden wir heraus, wie wir das Armageddon rückgängig machen können.“
Ernest erhob sich ebenfalls, während sie zu der Tafel traten und zog seine Wollhandschuhe an. Auch wenn ihre Chancen nur klein – wenn nicht gar gleich null – waren, dies war besser als herumzusitzen und nichts zu tun. Ernest griff nach dem Stift, und als er wegen der Kälte etwas ungelenkig die drei Buchstaben oben auf die Tafel kritzelte, welche Kinder in der Schule zuerst lernten, die drei Buchstaben, die letztendlich gemeinsam das Ende der halben Welt bedeutet hatten, dachte er wieder an Australien.
Hallo liebe Sarah
Ich frage mich gerade, ob der Titel das bedeutet, was ich vermute :-S
Hallo werter Clue Reader
Ich vermute, dass du richtig vermutest, was der Titel bedeutet – daher würde ich vermutlich davon ausgehen, dass du Recht hat mit deiner Vermutung :-)
Sarah