Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Wie meinst du das?“ Es ist die schlimmste aller Fragen, eine der dümmsten noch dazu. Das Problem: Sie ist dringend notwendig, haftet als Sinnbild der immensen, scheinbar bodenlosen Ineffizienz der menschlichen Kommunikation jedem Gespräch an.
„Genauso, wie ich es sage“, erwidere ich rasch und hoffe, diese simple Antwort würde die metaphorischen Wolken zwischen uns lichten. Das Tram ist beinahe leer, offenbar gehören wir zu den wenigen, die sich so früh von den Festivitäten verabschieden wollten. Bei mir ist das nicht weiter verwunderlich, es gibt kaum Massenveranstaltungen, die ich länger als unbedingt notwendig ertragen will. Allerdings fand ich es etwas kurios, dass Daniel sich mir angeschlossen hat, als ich meinen Drink ausgetrunken und das Festzelt verlassen habe. Meine Skepsis war angebracht, zumal ich jetzt in diesem leidigen Gespräch festsitze, was er bestimmt den ganzen Tag über geplant hat.
„Ja, klar“, murmelt er nachdenklich und sieht mich dann eindringlich an. Er hält direkten Augenkontakt, als wolle er zusätzliche Informationen aus meinen Glaskörpern pulen. „Aber was hat das zu bedeuten?“ Er hakt nach, natürlich tut er das. Wem etwas an erfolgsversprechender Interaktion mit seinem Gegenüber liegt, ist auf ständige Versicherungen angewiesen. Phrasen wie ‚Habe ich das richtig gehört?‘, ‚Du willst mir sagen, dass …‘, ‚Wie meinst du das?‘ sind Eckpfeiler unserer Verständigung und obwohl mich das unsäglich nervt, bin ich irgendwie auch dankbar dafür, wenn sich jemand die Mühe macht, meine Worte exakt aufzufassen.
„Nichts weiter.“ Vielleicht sollte ich mich etwas mehr bemühen, denke ich mir und fahre stockend fort: „Ich … wollte nur mein fehlendes Interesse an deiner Meinung zur aktuellen Situation ausdrücken.“
„Soll das heißen, dass dir meine Meinung nicht passt?“ Und da sind wir, ohne Umwege springen wir Kopf voran in ein Missverständnis. Eines, das nicht sein müsste, wenn man sich auf einer rein sachlichen Ebene austauschen könnte.
„Nein. Gleichgültigkeit ist nicht dasselbe wie Ablehnung“, erläutere ich wenig zuversichtlich. Wieso er sich ausgerechnet für diesen Aspekt meines Lebens interessieren muss, bleibt mir weiterhin ein Rätsel. Das Tram kommt zum Stehen, eine alte Dame klettert gemächlich übers Trittbrett, ein neuer Fahrgast steigt zu und schon fahren wir weiter. Vor dem Passieren der schmalen Kreuzung nach der Haltestelle läutet der Tramführer die Glocke – fehlende Übersicht hat bereits oft zu Unfällen geführt.
„Ich finde es eben etwas seltsam“, nimmt Daniel die Unterhaltung wieder auf und ich bereue zutiefst, dass der Zugestiegene sich nicht neben uns gesetzt hat, sondern außer Hörweite am anderen Ende des Waggons auf sein Smartphone starrt. „Du hast das Ganze nicht einmal mit uns abgesprochen. Wir sind immerhin deine Freunde!“ Er klingt empört, zumindest deute ich seinen Tonfall so.
„Ich habe euch zeitnah über meine Pläne benachrichtig …“ Ich werde kleinlaut, wahrscheinlich kann man aus meinen Worten Schuldgefühle raushören, wenn man will. Schuldig fühle ich mich jedoch keineswegs, bloß mag ich das nicht weiter erklären.
„Ja, hast du, ganze zwei Wochen bevor du für immer verschwinden willst!“ Dramatisierungen gehören genauso zum alltäglichen Austausch, genauso wie haltlose Anschuldigungen oder Interpretationen, welche auf Vermutungen basieren, die wiederum oft im Hörensagen ihren Ursprung haben.
„Ich verschwinde nicht. Ich ziehe um. Eine Gleichstellung der beiden Handlungen ist nicht akkurat.“ Zudem habe ich bis dato nicht herausgefunden, wie man effektiv verschwinden kann. Also, so richtig und ohne eine Spur zu hinterlassen – hätte ich das, bestünde kein Zweifel daran, dass ich diesen Zaubertrick sofort in die Tat umsetzen würde.
„Das ist sehr wohl ein akkurater Vergleich!“, blafft mich Daniel an und betont das einzige Fremdwort in seinem Satz mit nasal-verzerrter Stimme. Ich gehe von einem Versuch, sich über meine Wortwahl zu mokieren, aus. Da haben wir es, fällt mir amüsiert auf, jetzt beginne ich ebenfalls damit, zwischen den Zeilen zu lesen. Ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen – meine Erfahrung zeigt deutlich, wie äußerst schwer es mir fällt, die Emotionen meiner Mitmenschen korrekt zu interpretieren.
„Ich verstehe deine Beschwerde nicht, Daniel. Ihr habt Kenntnis über meinen Standort, sogar meine neue Adresse“, sage ich so bestimmt es mir möglich ist und strecke ihm zum Beweis meine frisch gedruckte Visitenkarte entgegen. Er hat bereits eine, zwei sogar, denn seine Mutter wollte auch eine haben, trotzdem scheint es mir angebracht, ihm das Kärtchen erneut zu zeigen.
„Da steht Australien. Verdammt, Micha, Australien!“ Seine Angewohnheit, mich auf Offensichtliches aufmerksam zu machen, hat sich mir trotz langjähriger Vertrautheit nicht ganz erschlossen.
„Ich weiß. Ich kann lesen und habe die Adresse eigenhändig eingetipp…“
„Micha!“, unterbricht mein bester Freund mich alles andere als freundschaftlich. Seine Tonlage hat sich eine halbe Oktave nach oben verlagert, was eigentlich nur zwei Dinge bedeuten kann: Er muss demnächst niesen oder er ist wütend. Während ich gespannt auf ein ohrenbetäubendes Niesen warte, überlege ich, ob ich vor dem Abflug Nasenspray kaufen soll.
„Himmelherrgott nochmal, ich weiß ja, dass du etwas verdreht bist, aber das hätte ich nun wirklich nicht von dir erwartet.“ Nun verrät mir nicht bloß die Absenz des Niesens, sondern ebenso die dicke Zorneswulst zwischen seinen Augenbrauen, dass Daniel wütend ist. Ich muss schnell etwas dagegen unternehmen, ansonsten beginnt er auf seinen Fingern rumzukneten, an seiner Warze auf der Handfläche zu zupfen und sich durch die Haare zu fahren – dann ist es lediglich ein kleiner Schritt, bis er mit den Beschuldigungen anfängt, die meist auf meine Unfähigkeit, die psychosoziale Dimension zu verstehen, abzielen.
„Es tut mir Leid“, stoße ich seufzend aus. Es tut mir nicht leid, ich wüsste nicht einmal, was mir überhaupt leidtun sollte, aber ich habe gelernt, dass man innerhalb einer Freundschaft hier und da die Unwahrheit sagen muss, damit sich der andere besser fühlt. Ich glaube, der Wunsch nach zwischenmenschlichem Frieden und Daniels Wohlergehen macht meine Lüge verzeihbar – vor allem wirkt sie.
„Unfassbar. Wieso hast du uns vorher nichts gesagt?“ Er ist etwas ruhiger geworden und stellt sogar Fragen, die Sinn ergeben.
„Ich hatte mich noch nicht festgelegt und da euer Input für meine Entscheidung bedeutungslos gewesen wäre, dachte ich, die Information sei nicht von Bedeutung.“ Ich lächle, das wird ihn sicher weiter beruhigen, denn er mag es, wenn ich meine Mundwinkel verschiebe. Anders als in anderen Kulturen signalisiert das Zähneblecken hier nicht Aggressivität, sondern Freundlichkeit oder Aufgeschlossenheit.
„Manchmal bist du echt ein Arschloch, weißt du das?“ Ich verzeihe ihm den anatomischen Nonsens, er ist aufgebracht und es soll hilfreich sein, Frust in Schimpfwörter verpackt loszuwerden.
„Bitte entschuldige, Daniel. Mir war nicht klar, dass dich das so verärgern wird.“ Eine Ahnung hatte ich zwar, allerdings vertraue ich in der Regel nicht auf solche vagen Eingebungen – ein Fehler, wie sich jetzt herausstellt.
„Kapierst du überhaupt, wie rücksichtlos du dich aufführst?“ Dieses Thema kenne ich bereits zu genüge, also nicke ich gleichmütig. In der Vergangenheit habe ich andere Optionen durchprobiert, habe mit Verteidigung oder Berichtigungen auf diese Anklage reagiert, doch ohne zufriedenstellende Resultate. Wenn es eine Kontinuität im Verhalten meiner kleinen Gruppe aus Freunden gibt, dann, dass ich derjenige sein muss, der Verständnis und Rücksicht für ihre, vorwiegend gefühlsbetonte, Weltanschauung aufzubringen hat. Eine temporäre Umkehr dieser Verhältnisse ist nur selten zu beobachten und wird meist von der herabwürdigenden Anmerkung begleitet, ich würde eben nicht ganz normal ticken.
„Nein, tue ich nicht. Bitte verzeih mir, wenn dich mein Benehmen kränkt oder gar verletzt. Das wollte ich nicht.“ Das Tram kommt neuerlich zum Stillstand, und wir verstummen während des Fahrgastwechsels, bis wir sicher sind, ungestört weitersprechen zu können. Den Unterschied zwischen Gesprächen, die absolute Intimität verlangen und solchen, die man in der Öffentlichkeit halten kann, kenne ich mittlerweile relativ gut. Es ist im Grunde simpel: Je ungehaltener mein Gegenüber ist, je schwerer es ihm fällt, seine Emotionen zu kontrollieren, desto mehr Abgeschiedenheit ist von Nöten.
„Du wirst mir fehlen, Micha, wie das Eigelb dem Küken.“ Dieses Bildnis rührt noch von unserer Gymnasiumzeit her, als wir gemeinsam zu Mittag aßen und ich ihn darüber aufklärte, was es mit dem Dottersack auf sich hat. Damals hat er mir beigebracht, dass Einzelheiten über Nahrungsmittel nicht während dem Verzehr der selbigen angesprochen werden sollten – das sei unappetitlich.
„Wieso?“, erkundige ich mich und löse das Lächeln, ehe meine Kiefermuskeln Laktat produzieren und das Grinsen schmerzhaft wird. „Wir können täglich über Skype miteinander sprechen.“
„Du tickst einfach nicht ganz normal“, lacht Daniel und scheint sich mit dieser redundanten Feststellung zufriedenzugeben.