Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Es ist Lysergsäurediethylamid“, habe ich gesagt. Natürlich hätte ich nicht einfach „LSD“ sagen können, dazu habe ich zu viel Freude an meinem Job und bin zu detailversessen. Jedenfalls hat mich Josh, der Streifenpolizist der neben mir gestanden ist, mit einem Blick angesehen, der frei übersetzt wohl so etwas wie „Diese blöden Forensiker!“ bedeutet haben mochte. Ja, manchmal komme ich wohl als Angeberin rüber, als eine, die sich etwas auf ihr Wissen einbildet, und nicht alle glauben mir, dass es einfach meine Begeisterung für das Thema ist, die diesen Eindruck erweckt. Manchmal glaubte ich, dass dieses obsessive Interesse ein fester Bestandteil meiner Identität geworden ist. Doch ich habe nachgelassen und meine Neugier auf alles, auf das ich mich nicht konzentrierte, ist ein wenig auf der Strecke geblieben und darum habe ich auch nicht aufgeschaut, als Josh gelangweilt gefragt hat: „Athena, sag mal, riecht hier was komisch?“
Es war kein großer Amoklauf, kein verrückter Heckenschütze, der an seinen Tatort zurückgekehrt ist, der mich erwischt hat, so wie ich es mir immer ausgemalt hatte, sondern etwas völlig Banales – Shit happens. Wieso ich mir mein Ende immer als Verbrechen ausgemalt habe, kann ich selbst nicht sagen, wahrscheinlich habe ich einfach eine zu lebendige Fantasie. „Gehabt“, füge ich in meinen Gedanken hinzu. Daran würde ich mich gewöhnen müssen, zuckt es mir durch den Kopf, bevor ich beinahe in Gelächter ausbreche, das sich jedoch eher als trocken klingendes, röchelndes Husten manifestiert. Ich würde mich an gar nichts mehr gewöhnen müssen, denn ich bin mir sicher, dass in einer halben Stunde alles vorüber ist. Ein stechender Schmerz fährt durch meine Hüftgegend, als ich versuche mich etwas zu bewegen und ich beiße die Zähne zusammen und gebe mein Bestes, ein Stöhnen zu unterdrücken, denn auch wenn ich alleine bin, ich will keine Schwäche zeigen, nicht einmal vor mir selbst. Erst recht nicht vor mir selbst.
„Wie dumm bist du eigentlich?“, murmle ich und entscheide mich dazu, einfach liegenzubleiben. Niemand kann mich hören, niemand kann mich sehen, wem mache ich hier etwas vor?
Doch nochmal von vorn. Angefangen hatte alles heute Morgen, als wir zur Musikschule gerufen worden waren. Ein Junge hatte LSD (ja, jetzt sage ich es so, dass es jeder versteht, wieso weiß ich selber nicht) geschluckt und war in der Euphorie aus dem Fenster gesprungen. Wenigstens hat er nicht lange gelitten, dachte ich mir, als ich den zerschmetterten Körper gesehen habe, der im Innenhof des alten Gebäudes lag. Ich habe mir nicht viel dabei gedacht, nur ein weiterer dummer Unfall, der einem Teenager auf einem Drogentrip wiederfahren ist. Und obwohl ich meinen Job gern machte, war dieser Fall doch eher langweilig und so habe ich im dritten Stock des Wohnheims alle Spuren untersucht, um auszuschließen, dass jemand ihn geschubst hatte. Josh, dessen Akzent man kaum mehr anhören konnte, dass er vor langer Zeit aus Europa eingewandert war, war noch viel weniger motiviert als ich, doch er hatte mit einem Blick auf den toten Teenager bemerkt: „Das hätte der nächste Beethoven sein können. Na ja, wir werden es nie wissen.“
Beinahe hätte ich gelacht, denn auch wenn Josh nicht versuchte witzig zu sein, seine trockenen Kommentare kamen immer in dem Moment, in dem sie am absurdesten waren. Doch ich habe mich zusammengenommen und mich dem Drogenschnelltest gewidmet, mit dem ich bestätigen konnte, dass an dem Löschpapier auf dem Nachttisch des Jungen tatsächlich LSD war.
Mir ist kalt, so kalt, dass ich glaube zu zittern, aber vielleicht ist es auch der Schock. Oder es ist mein Körper, der langsam aber sicher den Geist aufgibt. Eigentlich eine lustige Redewendung, ein Körper, der den Geist aufgibt, geht es mir durch den Kopf. Und dunkel ist es hier unten, doch nicht pechschwarz, denn ab und an flackert irgendwo das kalte Licht einer kaputten Leuchtröhre auf, nur um dann wieder zu erlöschen, begleitet von dem klimpernden Geräusch, das die Lampe dabei macht, beinahe wie ein nicht harmonisches Instrument. Laut ist es jedes Mal, es hallt durch den Zwischenraum, in dem ich liege. Wer hätte gedacht, dass eine einzelne kaputte Lampe so laut sein kann? Erst hat es mich in den Wahnsinn getrieben, doch schon bald hat es mir zu gefallen begonnen, denn in der gruseligen Stille ist mir jede Abwechslung willkommen, genauso wie das gelegentliche Rieseln von Mörtel und das Tropfen von Wasser, das alle paar Minuten wieder zu hören war; eigentlich weiß ich nicht, ob es Minuten sind, aber ich vermute es. Der Schmerz ist noch immer da, die ganze Gegend um meine Leiste fühlt sich wie ein Trümmerhaufen an, ein quälendes Gefühl und die Vorstellung daran, wie es im Innern meines Körpers aussieht, treibt mir kalte Schauer über den Rücken. Die Beine kann ich nicht fühlen, schon seit ich aufgewacht bin. Es könnte etwas mit der wohl tonnenschweren Betonplatte zu tun haben, die auf ihnen liegt, habe ich mir sarkastisch gedacht.
Weniger als einen Meter über meinem Kopf liegt eine der Bodenplatten vom Innenhof, auf der noch Blutflecken zu erkennen waren. Sie erinnern mich an ein Ölbild, das ich vor einiger Zeit in einem Museum gesehen habe und an dessen Maler ich mich nicht mehr erinnern kann. Es ist mir ein Rätsel, wie ich unter einer Bodenplatte zu liegen kam, die zuvor drei Stockwerke unter mir gewesen war, doch ich kann in dem Chaos aus Gebäudeteilen beim besten Willen keine Logik erkennen. Der Junge auf LSD hat es gut gehabt, er hat wenigstens seinen Spaß dabei gehabt, das Zeitliche zu segnen; ein glatter, eleganter Abgang, der nur seine Hinterbliebenen traurig machen würde. Er selbst machte sich keine Gedanken darüber, dass jeder alleine stirbt, begraben in einem erstaunlich tiefen Loch. Und da ist sie wieder, die Wut darüber, wie unfair das Ganze ist. Ich bin nur hier, weil ein dummer Teenager zum falschen Zeitpunkt aus dem falschen Fenster gesprungen ist! Klar konnte er nicht wissen, das wegen einem Gasleck der ganze Keller der Musikschule langsam zu einer riesigen Bombe geworden war, die dann im falschen Moment das ganze Haus zu Schutt und Asche verwandelt hat. Aber trotzdem rege ich mich auf, weil es nicht das ist, was ich mir als mein Ende vorgestellt habe. Akzeptiert habe ich es schon längst, oder zumindest sage ich mir das, denn ich bin nicht erst seit fünf Minuten hier unten und mir läuft langsam aber sicher die Zeit davon und will nicht in meinen letzten Minuten frustriert und genervt sein. Mein Mund fühlt sich sehr trocken an und mir ist schwindlig. Ich friere nicht mehr und werde immer ruhiger, doch noch sage ich mir, dass ich weiterhin kämpfen muss. Nicht dass ich wirklich kämpfen kann, denn ich bin unter einem vier Stockwerke hohen Gebäude begraben.
Ich muss mich auf irgendwas konzentrieren, ich will nicht einschlafen! Wieder erklingt das Geräusch der sterbenden Lampe, ein verzweifeltes Pling-Pling-Pling, bevor sie wieder für einen Moment ruhig wird. Ich frage mich, was zuerst für immer erlischt, die Neuronen in meinem Gehirn oder die letzte überlebende Neonröhre und wieder hätte ich beinahe gelacht, doch ich war zu schwach.
Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen ist, als mich ein grausiges Knarren von Metall mich aus meiner Stille reißt und mein kleines Loch mit Lärm erfüllt, gefolgt von den Poltern herunterfallender Steine. Ich kann menschliche Stimmen hören, erst verstehe ich nicht was sie sagen, doch ein Rufen übertönt alles: „Ist jemand da unten?“
Innert Sekundenbruchteilen bin ich wieder völlig da, vielleicht ist es ein Adrenalinschub. Jemand ist gekommen, sie haben sich in meine Richtung durchgegraben. Alles, was ich tun muss, ist rufen und in wenigen Minuten würde es hier unten von Feuerwehrleuten und Sanitätern wimmeln. Dann denke ich, erst nur flüchtig, an meine zertrümmerten Beine, mein schmerzendes Becken und beginne mir ein Leben nach meiner Rettung auszumalen. Hier unten ist es ruhig, friedlich und ich glaubte nicht, dass es noch lange dauern würde, bis alles vorüber wäre. Ich halte inne, frage mich, ob ich wirklich rufen will, oder ob ich es lassen soll. Ich muss mich entscheiden.