Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Daisy saß im Regieraum, blickte abwesend auf ihre lackierten Fingernägel und wusste selbst kaum, worüber sie eigentlich nachdachte. Manchmal musste man tagträumen – sei es nun, weil ein alter Disney-Film in der Glotze lief und einem mit nostalgischen Gedanken verlockte, oder weil die Arbeit mal wieder langweilig war. Widerwillig kehrte sie in die Realität zurück, als hinter ihr eine Tür geöffnet wurde und sie Peters schwere Schritte hörte. „Na, schönes Wochenende gehabt?“, rief der Wettermoderator fröhlich.
„Ganz okay“, antwortete Daisy und rang sich ein Lächeln ab. „Und du?“
„Meins war komisch, ich habe eine Gesichtsmaske ausprobiert.“
„Na?“, wollte sie erfahren, schließlich hatte sie sich noch nie auf sowas eingelassen und Peters Verschönerungsversuche waren ein genauso akzeptables Konversationsthema für Smalltalk wie jedes andere. Er überlegte kurz: „Für eine halbe Stunde fühlt sich alles wunderbar frisch an und danach ist die Haut auch schon wieder fettig.“
„Tja.“ Peter schaffte es ab und an, ihr ein Grinsen zu entlocken, miese Laune hin oder her. „Dann heiße ich dich und deine fettige Gesichtshaut willkommen zurück im Fernsehstudio.“
„Danke. Und wann bist du heute auf Sendung? Abendnachrichten?“
„Jup. Ich sollte mich langsam vorbereiten, sonst vergeige ich meinen Auftritt.“
Peter gluckste. „Das wäre schlecht, sogar beim Lokalfernsehen. Immerhin darfst du dafür hier dumme Sprüche klopfen.“
Nachdem Peter sich verabschiedet hatte, hockte Daisy erneut alleine im Regieraum und betrachtete das Skript, das vor ihr auf dem Tisch lag. „Okay“, brummte sie, sah zu dem Poster auf, auf dem ihre Silhouette zu erkennen war. Vor einigen Jahren war sie sozusagen das Aushängeschild des Senders gewesen, bevor sie von einer jüngeren Version abgelöst worden war. Aber damit hatte sie sich abgefunden, es gab genug andere Gründe, wieso sie seit Ewigkeiten in einem Motivationsloch steckte – für sie hatte der Journalismus seinen Zauber, den Touch von Abenteuer und Ethos verloren, war profan geworden. Und sie, ja, sie erwachte mittlerweile jeden Morgen müde, egal, wie lange sie geschlafen hatte. Weder Urlaub noch eine der unzähligen Therapien, denen sie eine Chance gegeben hatte, funktionierten und obwohl Daisy sich das ungern eingestand, hatte sie längst die Hoffnung auf Besserung aufgegeben. Dennoch gab es sie, Kleinigkeiten, welche sie aufheiterten, obwohl sie ihre letzten Medikamente ohne Rücksprache mit dem Arzt abgesetzt hatte.
Und so war es gekommen, dass die Moderatorin sich vornahm, über weniger deprimierendes zu berichten als den Asbest in der lokalen Grundschule und den übellaunigen Präsidenten, der auf Twitter einem anderen, noch übellaunigeren Präsidenten drohte. Nein, heute wollte sie ihren Job feiern, und zwar mit einem Thema, das keineswegs von der Nachrichtenredaktion abgesegnet war. Einen Pulitzer gäbe es dafür sicherlich nicht, allerdings war sie dafür bei den Lokalnachrichten ohnehin am falschen Ort. Wieso also sollte sie nicht ihren Spaß haben? Wohl wissend, dass dies ihr letzter Arbeitstag sein könnte, streckte sie sich mit knackenden Gelenken und starrte ihr Spiegelbild herausfordernd an. „Du packst das, altes Mädchen“, redete sie sich gut zu, wie sie es sonst nur in ihren dunkelsten Stunden tat. Sie hatte wenig Angst vor den Konsequenzen, trotzdem war sie nervös. Sie, die pedantische, stets um Anstand bemühte, würde heute ihre eigenen Regeln brechen, die Komfortzone verlassen. Entschlossen las sie ein letztes Mal den Text durch, ehe sie die Papiere in eine Mappe schob und sich auf den Weg in die Maske machte.
„Guten Abend, werte Damen und Herren“, begann Daisy routiniert, als der Jingle verklungen war. „Die Themen heute …“ Mit ihrem üblichen, unverbindlichen Lächeln für die Kamera las sie die Schlagzeilen ab, eine nach der anderen. „Zuerst unser Sonderreport aus der Redaktion: Welche entsetzlichen Dinge stehen im Browserverlauf unserer Mitarbeiter?“ Sie räusperte sich und Fred, der Kameramann, glotzte sie entgeistert an, sogar Peter, der neben ihr stand, beäugte sie verwirrt. Davon unberührt fuhr sie fort: „Sicherlich kennen Sie das: Keiner möchte, dass sein Browserverlauf der Nachwelt erhalten bleibt, geschweige denn, ihn der Familie zeigen. Pornographie ist da wahrscheinlich das kleinste Übel, also, liebe Eltern, schickt eure Kinder ins Bett, denn dieser Report wird Sie schockieren. Über Monate habe ich sämtliche Verläufe von Mitarbeitern, die sich auszuloggen vergaßen, exportiert und durchkämmt – das Ergebnis ist erschreckend.“
Sie erzählte von M.‘s (Name geändert) illegalen Waffenkäufen, den verstörenden sexuellen Vorlieben von C., H.‘s kleiner Hanfplantage, die eine eigene Webcam hatte und den unglaublichen Ideen, die R. über Politik und Rasse hatte. Manch einer ging wohl davon aus, sie räche sich für irgendeine Ungerechtigkeit, doch Daisy war kein nachtragender Mensch, nein. Dieser ungewöhnliche Bericht war lediglich ihre Art, sich zu amüsieren, ein wenig Freude in die Tristesse des Alltags zu bringen. Nachdem sie mit ihrer Offenlegung fertig war, schloss sie gutgelaunt mit den Worten: „Und darum, liebe Zuschauer: Immer schön den Browserverlauf löschen. Und damit kommen wir zu den Lokalthemen.“
Da saß Daisy vis-à-vis ihres Boss‘ und wünschte sich fast, panisch, zumindest ängstlich zu sein. Leider empfand sie keine dieser Emotionen – egal, was geschah, sie begegnete ihm mit absoluter Gleichgültigkeit, einzig ein leichtes Amüsement über ihre Tat konnte sie noch verspüren. Ihr Boss dagegen war derzeit höchst emotional, wie man der rötlichen Verfärbung seiner Ohren ablesen konnte. „Was haben Sie sich dabei gedacht?“
Daisy zuckte mit den Schultern und erklärte: „Ich wollte ein bisschen Spaß haben. Sie wissen ja, wie es ist: Der Alltag kann echt öde werden und man muss etwas neues einbringen, um den Trott zu durchbrechen.“
„Und da haben Sie einfach ihre Mitarbeiter ausspioniert und …“
„Meine Mitarbeiter und Vorgesetzte“, unterbrach sie ihn. Ihr war wichtig, dass Aussagen, auch wenn es Anschuldigungen waren, korrekt formuliert wurden. „Und ich habe nie Namen genannt.“
Mit einem Mal wurde ihr Gegenüber kreidebleich und verstummte. Stattdessen musterte er sie für einige Sekunden eingehend, ehe er besonnen sagte: „Wenn Sie versprechen, sich nie wieder derartig unseriös aufzuführen, können Sie Ihre Stelle behalten.“
„Okay, ich verspreche es“, meinte Betty desinteressiert. Sie würde auf lange Sicht schon einen anderen Weg finden, sich für einige Minuten köstlich zu unterhalten.