Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Diese Geschichte enthält Dialog in Schweizerdeutsch – die deutsche Übersetzung findet ihr am Ende des Textes.
„He, schau mal“, rief Jan freudig aus und zeigte mit ausgestrecktem Finger in die Ferne. „Da ist eine Hütte!“ Schlagartig verflog die vom drohenden Sturm ausgelöste Tristesse aus dem Wandertrupp.
Mario, der ihnen vorausmarschierte, wandte sich stöhnend um. „Mensch, gerade noch rechtzeitig.“
Mit zusammengekniffenen Augen suchte Mona die Hütte, erkannte jedoch nichts. Die Sonne klebte bereits am Himmel und blendete sie. „Wo?“
„Dort hinten, bei dem Tannengrüppchen“, erklärte Jan, richtete die Träger ihres Rucksacks, den er ihr vor einer Weile mit der Anmerkung „Was zum Geier schleppst du rum? Ein Wörterbuch?!“ abgenommen hatte und joggte in die angegebene Richtung davon.
„Ein prima Fund, muss ich zugeben, Jan.“ Mario lehnte sich auf der Küchenbank zurück und legte die Tüte mit Knabberzeug auf seinem Bauch ab. Der Plan, die Nacht im Zelt zu verbringen, war ihnen mit dem Heranziehen der Gewitterwolken stetig unsympathischer geworden. So ging es manchmal mit romantisierten Ideen, wenn sie Realität wurden, erschienen sie mehr unbequem als gemütlich.
„Hoffe, es kommt keiner“, teilte Mona erneut ihre Bedenken mit, ohne Erlaubnis in einer fremden Alphütte zu übernachten. Jan reichte ihr ein Glas Wasser und setzte sich auf einen Schemel.
„Jetzt hör auf.“ Mario warf ihr eine Erdnuss an, die von ihrem Hals abprallte und anschließend in ihrem Ausschnitt landete.
„He!“, kicherte sie auf, fische das Nüsschen aus ihrem Sport-BH und pfefferte es ihrem Gegenüber an die Stirn. „Da haben Nüsse nichts verloren.“
„Jaja“, grunzte Jan. „Lesben und ihre Nussallergie.“
Das Gelächter der drei Kindheitsfreunde wurde lauter, da kreischte Mona: „Scheiße, was ist das?!“ Entsetzt deutete sie auf den Tisch, wirbelte herum und begann zu würgen.
„Äh, das da?“, wunderte sich Mario.
„Sind es Wanzen? Oh Gott, bitte sag mir, dass es keine Spinnen sind!“ Die beiden Jungs tauschten einen erst verwirrten, dann amüsierten Blick aus.
„Das ist der Mohn von meinem Brötchen, du Nuss“, erlöste sie Mario. Wieder donnerte eine Lachsalve durch den engen Raum. Just in dem Moment brach das erste Donnergrollen über sie herein, wenige Sekunden später schüttete es wie aus Kübeln. Mario rutschte umständlich ans Ende des Banks, quetschte sich zwischen Tisch und Kochnische hervor und schlenderte zum Fenster.
„Jup, ein prima Fund, diese Hütte.“ Die Stimmung war plötzlich gedämpft, beinahe besinnlich.
Sich eine Lachträne von der Wange streichend meinte sie: „Danke für den schönen Ausflug, Jungs. Ferien in den Schweizer Bergen sind echt genau das, was ich brauche.“
„Ach, was“, winkte Jan ab und griff nach seiner Zigarettenschachtel. „Wir haben gerne Spaß mit dir.“ Er hob seine Tasse. „Auf einen tollen Abend.“
„Prost“, flötete Mona und stürzte ihr Wasser hinunter.
„Holla“, pfiff Jan. „Da zeigt sich die begnadete Trinkerin. Hätten wir bloß was Stärkeres dabei.“
„Zum Glück nicht“, keuchte sie leicht angewidert. „Meine Studententage haben mir den Alkohol endgültig verdorben. Saufen würde ich ihn natürlich trotzdem.“
Mario gluckste und tätschelte ihren Rücken. „Keine Sorge, wir füllen dich nicht ab.“
„Spaß haben wir auch so“ fügte Jan diebisch grinsend hinzu.
Als sie aufwachte, lag sie in einem schmalen Bett. Alles war verschwommen, verlangsamt. „Wa…“ Die Frage blieb ihr im Hals stecken, sie konnte kaum schlucken. Mona lag auf einer kratzigen Wolldecke, direkt über ihr war eine Dachschräge aus gealterten Holzplanken. Ihr letzter Filmriss war Jahre her und sie hatte keine Ahnung, wie es überhaupt dazu gekommen war. Alles drehte sich, Astlöcher verzerrten sich zu spiralförmigen Schlieren am Holzhimmel. Mona war speiübel, sie hatte einen käsig-salzigen Geschmack im Mund. Ihre Versuche sich aufzurichten schienen aussichtslos, sie war schlaff und ihr Körper schmerzte überall. Etwas stimmte nicht, sie fühlte es. Eine scheußliche Erinnerung hockte tief begraben unter ihrem Bewusstsein, wartete darauf, von ihr erfasst zu werden. Auch das wollte ihr nicht gelingen. Was geschehen war, wie sie in diesem Bett gelandet war, blieb hinter einer milchig-gelben Fassade verborgen. Hatten sie in der Hütte Schnaps gefunden, Schwarzgebrannten vielleicht? In das wellenartige Rauschen, das sie umwaberte, mischte sich ein Krachen, gefolgt von einem rasch näherkommenden Poltern. „Jan?“, krächzte sie. „Ma… Mario?“ Monas Instinkte schalteten auf Panik, Adrenalin zischte wie ein Pfeil durch den Nebel, riss gerade genug Fetzen hinaus, um ihr eine winzige Luke in die Außenwelt fernab ihres Kokons aus Bett und hölzernem Dachhimmel freizumachen. Die Schritte verklangen, wurden von einem Quietschen abgelöst. Eine Tür öffnete sich und kaltweißes Blitzlicht flackerte im fensterlosen Zimmer, übertünchte den Schein der kleinen Öllampe. Eine unbekannte, hochragende Silhouette erschien über ihr.
„Bisch du scho uuf?“[i] Erschrocken krallte sie ihre Finger in die Decke. Diese Stimme, rau und furchteinflößend ruhig. „Läck, da bini auso scho schampar froh.“[ii] Endlich gehorchte ihr schlaffer Leib und schoss hoch wie eine Rakete, doch statt dem Fremden sah sie tausend Sterne. Ein brennender Schmerz spießte sie auf. Mona langte zwischen ihre Beine, atmete scharf ein und übergab sich.
„Was hast du mir angetan?!“ Was ein Brüllen hätte werden sollen, kam als heiseres Fiepen aus ihr heraus.
„Ou, Seich.“[iii] Er trat ans Bett heran und stellte eine Tasse neben sie auf den Boden. Seine Funzel offenbarte einen zäh-sehnigen Mann Mitte Sechzig. Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss. Monas Herzschlag raste, als er sich vorbeugte.
„Nein!“, bellte sie.
„Du bruchsch ke Angscht zha, Meitschi, hiä obna cha dr nüt gsche.“[iv] Perfide lächelnd präsentierte er grünbraune Zahnstümpfe und rissige Lippen, dann ging er erneut wieder auf sie zu, legte seine Pranke an ihre Schulter und drückte sie auf die Matratze. „Tuesch widär häreligge u di äs biräbiitzeli usruhiä, gäll.“[v]
„Geh weg von mir!“ Der Alte hob seine Hände und schlurfte einen halben Meter rückwärts.
„Äi, isch dänk scho guet, i wott diär ja nu häufä, muäsch di nid ufrega.“[vi]
„Geh weg von mir, du perverser Dreckskerl, geh weg!“ Die Kammer war erfüllt von seinem Gestank. Der Geruch von Mist, Gärfutter und Zahnfäulnis fraß sich in ihrer Nase fest.
„Tu di gschweiggä, Meitschi.“[vii] Das kannte sie, „Meitschi“, so war sie vom Schaffner angesprochen worden. Jan und Mario hatte er kaum beachtet.
„Jan, Mario“, stieß Mona das Schlimmste befürchtend aus. „Wo sind sie?“ Sie war den Tränen nahe, wollte nicht verarbeiten, welche Grausamkeit ihr wiederfahren war, ihr noch zustoßen würde. Also klammerte sie sich an die vage Hoffnung, ihre Freunde kämen, um sie zu retten.
„Diä Soucheibe!“[viii] Sein Ausdruck verhärmte sich, wütend klopfte er auf seine Brust. „Vertribä hani se, die vertüüflet giggerigä Soucheibe“[ix], brummte er kopfschüttelnd, bevor er sie mitleidig anschaute. „Äs gscheht dr nüm Böses.“[x] Sie verstand nur Bruchstücke seines urigen Dialekts, sehr wohl aber, dass er „Böse“ gesagt hatte.
„Hau ab, hau ab!“, knurrte sie um Fassung bemüht und, all ihren schlimmsten Ängsten zum Trotz, nickte der Vergewaltiger und ließ sie mit ihren Verletzungen allein.