Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Manche Leute entscheiden sich dazu, schlimme Dinge zu tun, weil sie dafür bezahlt werden. Andere kümmert es schlichtweg nicht oder sie haben gar ihre Freude daran. Wieder anderen fehlt die Wahl. Dann gibt es mich: Ich habe Prinzipien.
‚Jeder stirbt alleine‘ ist einer dieser Sätze, die man ständig zu hören kriegt und der sich wie ein Mantra in den Hinterkopf einbrennt, wo er darauf wartet, einen in den dunkelsten Stunden heimzusuchen. Die Wahrheit ist noch härter: Wir leben auch alleine. In all den Jahren, die ich auf dieser Welt verbracht habe, war mir stets bewusst, dass Menschen isoliert sind. Sie können sich zwar austauschen, dabei allerdings nie alles mitteilen, was sie ausmacht. Die individuelle Kombination aus Wahrnehmungen, Ideen, Gedanken und Emotionen, bleibt in uns verschlossen und wird mit unserem Tod ausgelöscht. Freilich, da wir Facebook, Twitter und Instagram mit unseren Eindrücken füllen, sind persönliche Informationen langlebiger geworden, können unser Ableben überdauern und einen kleinen Teil von uns erhalten. Allerdings sind wir weit entfernt von digitaler Unsterblichkeit, wenn sie auch das erste Mal seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte ein Versprechen ist, das am fernen Horizont steht. Besser als Seelen wiegen zu wollen ist es allemal. Ich fürchte, ich lasse mich zu leicht ablenken, jedenfalls führt uns diese Abschweifung zum Grund für mein kleines Performancekunstwerk: Wen ich töte, der stirbt nicht allein, denn in ihren letzten Sekunden der Pein offenbaren Menschen ihr wahres Ich.
Ich habe von Anfang an gewusst, es wird eines Tages zu Ende gehen und heute ist es soweit, schließlich ist Yves die Nummer Fünfundzwanzig in meinem Alphabet des Abschieds. Von Anna bis hin zu ihm, von jedem meiner Opfer nahm ich auf genau dieselbe Art Abschied: Ich bin mit dem Boot aufs Meer hinausgefahren und versenkte sie, zusammen mit einem Blumenstrauß, an einer mir heiligen Stelle. Ihr seht, meine alphabetisch sortierten Freunde bewohnen einen gemeinsamen Ruheplatz, keiner von ihnen wird je allein sein, ganz im Gegensatz zu mir …“
Der Staatsanwalt legte die Kopie des handgeschriebenen Geständnisses angelesen zur Seite und kratzte sich am Kopf. „Unfassbar, dieser Prozess wird ein Albtraum.“
„Ja, der Typ ist echt eine Labertüte, so viel Pathos und Gejammer findet man sogar bei Serienkillern selten.“ Detective Monaghan lehnte sich an den Türrahmen und lachte lustlos mit ihrer Kettenraucherstimme. „Ich wünschte, er hätte eine Waffe gezogen, als ich ihn verhaftet habe. Läge er jetzt erschossen von mir in der Leichenhalle, bliebe uns all das erspart.“
„Du als Polizistin solltest Derartiges weniger laut sagen, oder?“
„Och, bitte, wir denken es doch beide, Fitzroy! Und dann der Name, den die Presse dem Typen gibt: Alphabet-Killer. Klingt wie der Bösewicht aus irgendeinem bescheuerten Lernprogramm für Kleinkinder. Stell dir vor, der Typ hätte den Bundesstaat verlassen. Er wäre das Problem des FBI, nichts meins.“
„Jetzt ist er sowieso mein Problem“, konterte der Fitzroy. „Zumindest verleiht seine Verhaftung deiner Karriere ziemlich Aufschwung.“
„Vermutlich, ja“, sinnierte Monaghan. „Nur will ich nicht an einem Schreibtisch stranden und eine Beförderung bedeutet genau das.“ Sie stieß sich vom Schreibtisch ab und machte einige Schritte auf die Tür zu. „Ich bin müde und brauche eine Kippe, ich mache mal Feierabend. Meine Aussage sind wir ja schon durchgegangen und die restlichen Vorbereitung können wir morgen noch erledigen.“
„… keine weiteren Fragen, Euer Ehren.“ Detective Monaghan saß auf ihrem Platz zur Linken des Richters im Zeugenstand und beobachtete den Staatsanwalt, der sich eben von der Befragung zurückzog. Nun war die Verteidigung an der Reihe. Wie mancher selbstverliebte Killer hatte dieser ebenso darauf bestanden, sich selbst zu vertreten, trotz der Einwände seines Anwalts, der bloß als Berater am Tisch saß. Was auch immer kommen mochte, Monaghan rechnete damit, dass es für eine Überraschung gut wäre.
Der Mörder, der fünfundzwanzig Menschen auf dem Gewissen hatte, erhob sich und schritt auf sie zu, langsam, nahezu gelassen. „Detective“, fing er an, gefolgt von einer rhetorischen Pause. „Als sie den Mörder … mich …“ Er stockte und wandte sich dem Richter zu. „Euer Ehren, darf ich von mir in der ersten Person sprechen?“
„Selbstverständlich“, entgegnete der Richter, dessen Doppelkinn aus Monaghans Perspektive gigantisch aussah und im Sprechrhythmus wippte.
„Danke.“ Damit widmete sich der Angeklagte wieder der Zeugin. „Als Sie mich verhafteten, war Mister Cunningham in meiner Gewalt. Man könnte also behaupten, Sie sind eine Heldin, die ihm das Leben gerettet hat, korrekt?“
„Einspruch, Euer Ehren!“, rief der Staatsanwalt. „Diese Frage hat keinerlei Relevanz für die Verteidigung.“
Auf den forschenden Blick des Richters erklärte der Mörder: „Es geht dabei um die Einstellung der Zeugin.“
„Ich lasse sie zu. Bitte antworten Sie, Detective.“
Monaghan räusperte sich. „Nein. Ich bin Polizistin und habe lediglich meinen Job getan. Außerdem habe ich den Angeklagten, ich meine Sie, keineswegs im Alleingang, sondern mit einem SWAT-Team verhaftet.“
„M-hm.“ Er nickte. „Sie können es nicht leugnen, Sie sind für meine Ergreifung verantwortlich. Sie haben gerade dem Staatsanwalt erzählt, wie Sie mich nur dank Ihrer Beobachtungsgabe und einigen Erkenntnissen über meine Persönlichkeit fanden, richtig? Unter anderem waren sie die erste, die festgestellt hat, nach welchem Muster ich meine Opfer aussuche, alphabetisch nach Vornamen.“
„Es ist eine einseitige Interpretation der Sachlage, aber ja, man könnte das so sehen.“
„Gut.“ Ein selbstzufriedenes Lächeln spielte um den Mund des Killers. „Und was denken Sie, empfindet ein zutiefst gestörter Mensch, wenn Sie ihm das sechsundzwanzigste, sein finales Opfer verweigern?“
Die Polizistin kam ins Stocken, sie hatte einen Einspruch vom Staatsanwalt erwartet. Dieser blieb aus. Wahrscheinlich störte es ihn nicht, wenn der Mörder der Jury gleich selbst demonstrierte, welche Gefahr für die Allgemeinheit er war.
Schließlich sagt sie: „Ich fürchte, Sie haben bereits alle Gefängnisinsassen, deren Namen mit Z beginnen, auf einer To-Do-Liste verewigt.“
Er gab ein Geräusch von sich, das entfernt an ein Glucksen erinnerte. „Wieso sollte ich das tun? Ich habe selten lange für die Puzzleteile meines Performancekunstwerks gesucht, liebe Zahra. Das ist doch Ihr Vorname, oder, Detective? Haben Sie ehrlich nie daran gedacht, dass Sie meine Nummer sechsundzwanzig sind, dass ich Ihnen das größte Geschenk von allen machen möchte, nämlich, nicht allein zu sterben?“
Sie erstarrte, ihr Körper spannte sich an und sie sah dem arrogant grinsenden Kerl, der knapp einen halben Meter vor ihr stand, in die Fratze. Das „Einspruch“ des Staatsanwalts hallte wie aus weiter Entfernung durch ihren Verstand. Ihre Reflexe übernahmen die Kontrolle und schneller als ein Gerichtsdiener herbeieilen konnte, riss der Kerl eine selbstgebastelte Klinge aus seiner Anzugtasche.
Detective Monaghan stand vor dem leblosen Körper, dessen Blut auf dem alten Parkettboden des Gerichtssaals eine Pfütze gebildet und auf ihrer Hand Spritzer hinterlassen hatte. Die Klinge steckte noch in seinem Hals. „Scheiße“, flüsterte sie, wenn sie sich auch eingestehen musste, eine große Erleichterung zu verspüren. Der Saal war längst geräumt worden, das übliche Gerichtspublikum hatte seinen Platz den Tatortermittlern überlassen. Fitzroy, der Staatsanwalt, saß neben ihr und klopfte ihr beruhigend auf die Schulter. „Alles okay, Detective?“
„Ja“, murmelte sie. „Ich hätte damit rechnen sollen. Vor allem wundere ich mich, wie der Kerl es geschafft hat, eine Waffe in den Gerichtssaal zu schmuggeln.“
Fitzroy setzte zu einer Antwort an, als Zahra etwas einfiel und sie schnaubte. Entschlossen stand sie auf und trat, von dem perplexen Staatsanwalt begleitet, an seinen Tisch. Sie hob die Akte des Angeklagten hoch, schlug sie auf und hielt sie ihm unter die Nase. „Der Kerl hieß mit Vorname Zachary.“