Altlasten

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Nichts, nicht einmal ein Atomkrieg, konnte an den Berg aus Chaos herankommen, welcher sich auf dem Dachstock stapelte. Mit einem Lachen, das mir im Hals stecken blieb, stand ich vor den teils modrigen oder zerrissenen Kartons, aus denen mein Kinderspielzeug oder unzählige Papiere quollen. „Okay“, murmelte ich, doch obwohl ich mir damit Mut zuzusprechen versuchte, klang es eher sarkastisch als aufmunternd. Ich wusste, dass ich in zwei Tagen mit dem ganzen Kram durch sein musste, denn dann würden die Bauarbeiter auftauchen, die den Dachboden meines Elternhauses in ein geräumiges Loft umbauen sollten. Meine Eltern waren zwar vor einiger Zeit gestorben, doch da danach ich eingezogen war, hatte sich hier oben nicht viel verändert, denn ich war dafür bekannt, solch unliebsame Aufräumarbeiten lange hinauszuzögern. Etwas hilflos warf ich einen Blick auf die Spur, welche meine Gesundheitslatschen in der Staubschicht hinterlassen hatten und krempelte dann die Ärmel hoch um zumindest gegen außen hin motiviert zu wirken, in der Hoffnung, mich so selbst zu überlisten. Dann schritt ich mit dem Pathos eines Verurteilten durch die schmale Gasse zwischen Türmen aus Zügelboxen und musste unwillkürlich an den Film „The Green Mile“ denken.

Mittlerweile hatte sich das größte Chaos etwas gelichtet, denn ich war gut vorangekommen – zumindest versuchte ich mir das in meinem Zwangsoptimismus einzureden. Ich hatte sogar einen alten Radio gefunden, den ich in einer Ecke eingesteckt hatte, um während der leidigen Arbeit etwas Unterhaltung zu haben und so dudelte nun der Mittelwellensender die übliche Musikmischung vor sich hin, die offenbar typisch für Hausfrauen und Rentner war. Dass ich selbst bald zur zweiten Kategorie gehören würde, war mir noch immer nicht ganz bewusst geworden, dachte ich, während ich einen Schluck aus meiner Trinkflasche nahm. Die sommerliche Hitze, die sich unter den alten, verfärbten Holzbalken staute, machte mein Unterfangen auch nicht leichter, meine gesammelte Kindheit und das Erwachsenenleben meiner Eltern durchzusehen und zu großen Teilen zu recyceln. Immerhin hatte ich einen Kindergarten gefunden, der einige der besser erhaltenen Spielsachen gerne annahm und so stapelten sich neu gepackte Kisten neben den Müllsäcken, in denen alles steckte, was ich nicht mehr gebrauchen konnte. Mutig griff ich wieder tief in den unsortierten Haufen und zog eine mottenzerfressene, hellblaue Wolldecke hervor. Mit einem angewiderten Seufzer warf ich sie auf den Müllhaufen, der sich vor der Tür auftürmte und betrauerte einen Augenblick meine frühere Lieblingsdecke, bevor ich mich wieder den noch nicht erledigten Kartons zuwandte. Langsam aber sicher kam ein Gefühl der Frustration in mir auf, denn obwohl ich schon seit Stunden arbeitete, standen noch unzählige Kartons da, deren Inhalt ich bestenfalls erraten konnte. Der nächste Karton war voller Papiere und ich begriff, dass es ewig dauern würde ihn durchzusehen.

Erstarrt saß ich da und realisierte gar nicht, dass es draußen bereits dämmerte. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich schon so dagesessen hatte, es musste jedenfalls einige Zeit gewesen sein. Noch immer lagen die paar Blätter Papier um mich verteilt auf dem Boden, die mein ganzes Weltbild erschüttert hatten. Eben zuvor hatte ich noch ein staubiges, zerbrochenes Mobilée in den Händen gehalten, eine der unzähligen Kindheitserinnerungen, die hier unter dem scheinbar ewigen Staub begraben waren, nur um dann das zu finden.
Wie jeder gute Bürger hatte ich natürlich die Papiere durchsehen wollen, bevor ich mich entscheid, ob ich sie wegwarf oder nicht. Und da hatte ich es irgendwann verstanden: Ich hatte all die Jahre ohne es auch nur zu ahnen eine Lüge gelebt. Das unauffällige, unbeschriftete Album, das mitten unter all den anderen Dokumenten steckte, erzählte Bände – Bände von Familiengeschichte, die ich mir nicht in meinem wildesten Träumen ausgemalt hätte und die besser zu einer Fernsehsoap passten denn zum Kind aus gutbürgerlichem Hause, das ich früher einmal gewesen war.
Als ich das Album aus dem Papierstapel gezogen hatte, waren die leicht vergilbten und gewellten Seiten, geschwächt von Jahrzehnten der Kälte und Wärme, herausgefallen und hatten sich vor mir auf dem Boden verteilt. Doch statt dass auf ihnen Fotos meiner Urgroßeltern oder Kochrezepte aus den Siebzigern geklebt hatten, waren da diese alten Zeitungsausschnitte gesammelt. Verwirrt hatte ich mich erst gefragt, wie oft meine sonst nicht als Sammler bekannten Eltern denn etwas Interessantes in der Zeitung gefunden haben mussten, um damit ein ganzes Album füllen zu können. Erst nachdem ich, mit erwachter Neugier,  einige Minuten die Texte gelesen hatte, begriff ich endlich. In einigen davon ging es darum, dass eine Gruppe von ausnehmend gewalttätigen politischen Terroristen, die damals vor einem halben Jahrhundert, unser Land in Angst und Schrecken versetzt hatte, gefasst worden war. Ich hatte mir dabei nicht viel gedacht, bis ich schließlich auf mehreren der Pressebilder im Hintergrund meine Eltern entdecken konnte, zufällige Augenzeugen der Verhaftungen, wie es den Anschein hatte. Als ich in einem der Artikel gelesen hatte, dass die Polizei noch immer erfolglos nach den Anführern der Gruppe, einem Mann und einer Frau, fahndeten, hatte mir etwas zu dämmern begonnen. Und mit jedem Detail, das ich in einem der Beiträge las, wurde das Bild deutlicher, fiel ein weiteres Puzzlestück an seinen Platz. Entführungen, Geiselnahmen, Autobomben, gezielte Morde, die Liste schien unendlich weiterzugehen. Und nun saß ich da, mit dem Wissen, dass meine Eltern in ihren jungen Jahren Mörder gewesen waren. Wie sie es geschafft hatten, sich nach der ganzen Geschichte unauffällig ein gutbürgerliches Leben aufzubauen, blieb mir rätselhaft und ich zweifelte daran, dass ich es je erfahren würde. Das Erbe, dass ich all die Jahre unwissend mit mir herumgetragen hatte, schien nun über mir zu lasten wie eine dunkle, undefinierbare Wolke. Was sollte ich tun? In mir stritten sich Gefühle der Wut, Enttäuschung und Neugier miteinander und ich hatte keine Ahnung, was ich als Nächstes tun sollte. Als ich mich endlich dazu aufgerafft hatte, einen weiteren Schluck aus meiner Trinkflasche zu nehmen, siegte vorerst die Neugierde. Weiter wühlte ich mich durch Artikel aus Zeiten, in denen in meinem Land noch alles anders gewesen war. Als mir schließlich die sorgfältig gefaltete Zeitung in die Hände fiel, erfasste mich eine dunkle Vorahnung, die sich erhärtete, als ich auf das Datum über der Schlagzeile starrte. In ausgebleichten Lettern stand dort: „Kind aus Bankiersfamilie entführt – Polizei tappt weiterhin im Dunkeln.“

Autorin: Sarah
Setting: Dachstock
Clues: Gesundheitslatschen, Wolldecke, Frustration, Mobilée, Trinkflasche
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