Mit einem Seufzer ließ sich Amelie auf einen freien Stuhl am Esstisch fallen und stöhnte genervt auf. „Das ist ja nicht zum Aushalten!“ Als hätte sie Frauchens Stimmung bemerkt, huschte Selina, ihre Babykatze, in die Wohnküche, sprang auf den Tisch und begann zu schnurren. „Na, Kleine“, begrüsste Amelie ihre noch verhältnismäßig neue Mitbewohnerin und kraulte ihr den Bauch. „Du hebst meine Laune sofort.“ Entspannt blieb die Katze auf dem Tisch liegen, ihre Schwanzspitze berührte den Blumentopf mit einer Bromelie, die Amelie letzte Woche gekauft und dann beinahe zu gießen vergessen hatte. Immerhin hatte die arme Pflanze noch rechtzeitig Wasser bekommen, alles andere hätte Amelie wütend auf sich selbst gemacht. „Weißt du, heute war mal wieder ein nerviger Tag bei der Arbeit“, erzählte Amelie. „Ein totaler Brunz.“
Verständnislos starrte Selina sie an. „Das ist Berndeutsch, solltest du doch verstehen, du stammst aus der Gegend. Das heißt, es pisst mich an.“ Nun hatte der Flauscheball das Interesse verloren und versuchte, auf Amelies Fingern herumzukauen. „Hey, die brauche ich noch“, kicherte die Katzenhalterin und erhob sich, sehr zur Enttäuschung der Kleinen. „Mal die Tasche auspacken und eine Tiefkühllasagne in den Ofen knallen, dann wird das schon wieder. Also für dich gibt es keine Lasagne, sondern leckeres Katzenfutter.“ Sogleich setzte sie ihren Plan in die Tat um und schaltete den Ofen ein, gefolgt vom Radio. Während der Sprecher etwas über Buschfeuer in Australien erzählte, machte Amelie es sich bequem und begann damit, ihre Handtasche aufzuräumen. „Echt jetzt, so ein Depp“, wetterte sie dazu vor sich hin. „Heutzutage ist auf keinen mehr Verlass.“
Das Klacken der Wohnungstür riss sie aus ihren Grübeleien und blitzschnell hatte sie sich ein Fleischermesser von der Anrichte geschnappt und stand damit mitten im Raum – gar die arme Selina hatte sie verscheucht. „Schatz, ich bin heute früher zuhause!“, rief Stefan, ihr Verlobter, durch den Gang. Erleichtert senkte sie die improvisierte Waffe und warf sie achtlos in den Schüttstein. „Cool, dann gibt es zwei Tiefkühllasagnen“, murmele sie gutgelaunt und machte sich auf den Weg, ihn zu begrüßen.
„Was hat dich denn heute so genervt?“, erkundigte sich Stefan, als er ihr in die Küche folge.
Mit einem trockenen Glucksen erklärte Amelie: „Das kannst du dir nicht vorstellen. Der eine Kunde hat mich überfallen. Echt jetzt, so ein Arsch!“
„Aber dir ist nichts passiert?“, wollte Stefan besorgt wissen.
„Nein, nein, trotzdem will ich dem Arsch den Hals umdrehen. Ich habe erst gemeint, einer will einbrechen, als du kamst. Ich bin noch nicht so lange in der Branche, doch ich verstehe auch, dass es Dinge gibt, die man nicht einfach so auf sich sitzen lassen kann.“ Mit einem Blick zum Backofen wechselte sie das Thema. „Tiefkühllasagne? Ich habe einen Mordshunger.“
„Ja, gerne – teilen wir doch die vorerst und machen nachher eine zweite warm.“ Stefan kratzte sich an der Nase. „Also am wichtigsten ist, dass der nichts Schlimmeres angetan hat. Nun ja, du hast recht, wir haben einen Ruf zu verlieren, damit darf der nicht ungeschoren davonkommen. Was weißt du über ihn?“
Verwundert musterte sie ihn. „Wie meinst du das?“
„Na ja, ist er Holzfäller, gibt es Kettensägenunfälle, ist er Bergsteiger, reißt halt das Seil, ist er Bankier, sperrt er sich im Tresor ein – du weißt schon, ein Arbeitsunfall eben, nicht dass plötzlich jemand glaubt, der sei ermordet worden. Das wäre ja noch schöner.“
Amelie unterdrückte ein amüsiertes Schnauben. „Um Himmels willen, nein, der lebt in der Agglo in einem versifften Kabuff. Keine Ahnung, was der macht. Ist ein Junkie, vermutlich lebt der vom Soz.“
„Dann bleibt noch immer ein Kopfschuss. Vermutlich sowieso besser, dann können wir ein Zeichen setzen.“
„Ist das nicht ein wenig zu riskant?“, wollte Amelie skeptisch wissen. „Klar, du handelst schon seit Jahren mit dem Stoff, schon damals, als ich meinen Bachelor in Soziologie gemacht habe, nur …“
„Wenn es wie Selbstmord aussieht, kümmert das die Polizei kein bisschen“, unterbrach Stefan sie lachend. „Das ist nicht mein erstes Mal, vertrau mir.“
„Wenn du meinst“, murmelte sie, noch nicht ganz beruhigt. Sie hob das Kätzchen auf und streichelte es, als sie zum Fenster trat und die Aussicht auf die in die Abendsonne getauchten Berge des Berner Oberlandes genoss. „Und ich habe immer geglaubt, Schweizer Junkies seien friedvoller als die im Ami-TV.“
„Nope, die meisten sind keine Füdlibürger“, kommentierte Stefan trocken. „Spielt aber keine Rolle, denn Schweizer Drogenbarone sind auch schlimmer, als man denkt. Der wird schon bezahlen. Trotzdem solltest du dir langsam mal eine Pistole zulegen, nur für den Fall der Fälle.“
„Muss das sein?“, stöhnte Amelie. „Ich habe die Dinger echt nicht gern. Und einen abzuknallen ist heutzutage keine Bagatelle, das kann einem ganz schön viel Zeit hinter Gittern bescheren.“
„Na ja, das Ziel ist es ja nicht. Nur für den Fall der Fälle, ich möchte dich nicht eines Tages mit einem Loch im Kopf wiederfinden, noch bevor wir heiraten.“
Nun brach Amelie in Gelächter aus. „Mach keine Witze, Schatz! Bis auf uns bringt in diesem friedlichen, kleinen Schlafstädtchen keiner jemanden wegen Drogen um. Das könnte ja heiter werden, wenn es hier echte Kriminalität gäbe!“